2020 Juni 02 22:50
neukölln

Zerlaufende Gesichter. Neukölln is healing: Der Löwe an der Ecke hat wieder auf. Auf dem Gehweg Wiedersehen von Gästen und Personal, einander zugeneigt, über Tischen. Auch drinnen sitzen wieder Leute, im Kerzenschein. Ich falle erst auf der Höhe des Comeniusgarten in einen leichten Trab. Das erste Mal seit Futsal am 9. März, dass ich mich wieder schneller als in Schritttempo bewege. Offensichtlich eine ungewohnte Erfahrung für meine Fußgelenke, die knackend aus einer langen Starre erwachen. Wie Anhänger, die nach dem sich setzenden und zersetzenden Halt an Ausfallstraßen eines Tages wieder angekuppelt und mit einem leichten Ruck angezogen werden und ins Rollen kommen. Ich trete als alter Mann vor die Tür. Am Richardplatz humpele ich über das Pflaster, unrund wie Hader am Penny vorbei. Unter der Ringbahn hindurch, ein Mann in ausladender Latzhose winkt einen LKW in die Laderampe (Ladebrücke) ein. Über den Neuköllner Schifffahrtskanal, ich spucke über die Brüstung ins Wasser, mache ein paar kurze Antritte und Lockerungsübungen. Ein Fuchs trabt aus der Dunkelheit eines leeren Firmenparkplatzes herbei und quert die Straße. Das Gelände der DHL Packstation 180 liegt still, die Lieferwägen geparkt wie die Flotte der Stretch-Limousinen der Firma Holy Motors nach Feierabend. Liqui Moly. Durch den Tunnel aus Pressspanplatten laufe ich polternd über die Baustelle. Von der Neuköllnischen Allee biege ich rechts in die Grenzallee, Richtung Autobahnauffahrt. In der dunklen Stille des Neuköllner Gewerbegebiets verlangsame ich meinen Schritt und gehe. Auch weil mein voller Bauch spannt und ich den Mond bewundern will, der auf die Musterküchen fällt. Zerlaufende Gesichter in den geschlossenen Räumen, auf den Asphalt getreten. Die Fingerknöchel der geballten Faust reiben über das Brustbein wie einen Klangkörper, google: das Schrapinstrument Güiro mit seinen Kerben im Musikunterricht in der 4. Klasse. Resonanzräume hinter den Fenstern. Der Mond flutscht einmal aus der Faust wie ein Eigelb. Der Mond zieht einmal, in langen lauen Nächten, unter dem Küchenfenster, unter dem Küchentisch hindurch. Ein Mondfisch. Lustbefeuchter. Hallo hallo, Sommer, laue Nächte, Hundstage, hier bin ich. Tolle Hunde. Wie gut es sich geht, nur mit Hausschlüssel, T-Shirt und kurzer Sporthose bekleidet, vor die Tür zu treten, am Anfang der Nacht, sacht, bluau. I’m feeling Bluau. Der Wahn der Leute in den lauen Nächten, übergriffig, aufschnappend wie ein Messer, ins Gesicht springen.

Mondschatten auf Gehwegplatten, kratern über hervorbrechenden Baumwurzeln. Rasensprenger nässen in der Nachtluft den Asphalt. Wieder quere ich den Schifffahrtkanal, nun mit Blick auf die Schleuse und die Schrotthaufen. Röstaroma von Kaffee schnupper ich, das steht hier durchdringend in der Luft, von den Schloten von Tchibo am Kanal. Geil Geil Grenzallee. Der OBI-Parkplatz mit der überdimensionierten Leuchtreklame liegt leer und dunkel. Schemenhaft Bewegungen in zwei geparkten Autos, Innenlicht. Ein LKW läd krachend einen Schrottcontainer ab. Ein Fernfährer telefoniert in seiner Kabine, es dröhnt nach draußen. Später, der S-Bahnhof Neukölln von Blaulicht getönt, gespiegelt in Glas und Pfand. Müde Gesichter. Zerlaufende Gesichter. Abkippend.

Auf der Terrasse vor der Villa Rixdorf sitzen noch Gäste. Hier habe ich mal Pfifferlinge gegessen. Seitdem weiß ich, wie die aussehen. Vor dem Löwen verlangsame ich wieder meinen Schritt, als wäre ich nur kurz zum Späti gewesen. Vom Balkon grüßen die Nachbarn, halbwachsen, mit Jacky-Cola in der Hand, Euch auch noch einen schönen Abend. Dann hämmern sie „Verdammt ich lieb dich, ich lieb dich nicht“ durch die Decke, bis wer von der Straße hochruft, „Halt’s Maul oder sing was vernünftiges, du Opfer“. Bald kehrt Stille ein. Das Schlagerkarussell dreht aus. Spät in der Nacht höre ich noch Feuerwerk. Unwirklich. Heia.




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2019 September 14
kurzkritik
theater

Großes Haus Volksbühne
Eine Odyssee [Uraufführung]
nach Homer, neu erzählt von Thorleifur Örn Arnarsson und Mikael Torfarson
12.9.19 19:00 Reihe 23 Platz 7
EUR 13,00

»Every September the city has that nervy crisp air, that new season briskness: new films in the theaters where after a season of explosions serious black and white actors have sex against the odds and subplot of a crumbling apartheid regime, the new concert season led by exciting new conductors with wild floppy hair and big capped teeth premiering new repertoire featuring the debuts of exciting new soloists of obscure nationalities (an Ashkenazi/Bangladeshi pianist accompanying a fiery redheaded Indonesian violinist in Fiddler on the Hurūf), new galleries with new exhibitions of unwieldy mixedmedia installations (Climate Change Up: a cloud seeded with ballot chad), new choreography on new themes (La danse des tranches, ou pas de derivatives), new plays on and off Broadway featuring TV actresses seeking stage cred to relaunch careers playing characters dying of AIDS or dyslexia.« [Joshua Cohen, Book of Numbers. Vintage, London 2016, S. 12.]

Ein großes Wiedersehen vor der Volksbühne nach den Ferien. Die allgemeine Rückkehr in die Städte, that new season briskness. Die Karten warten an der Abendkasse, bezahlt noch vor dem Urlaub, vorletzte Reihe, der Vorhof der Heiden. Die Haut schuppt über dem Knöchel und wartet auf Bier, ich rieche an den frischgedruckten Programmheften.

Das Ensemble exerziert auf der Bühne, deklamiert Kadenzen, prononciert, über abgehackte Hände. Die betonen und vertonen die Sprache, da drei Musiker hereingeschoben werden auf einem vollgestellten Podest, die vergessen lassen, dass Brandt Brauer Frick erst am 3. November dran sind. Die Bühne dreht sich, es wird lauter, die Gesten, der Chor und die Instrumente steigern sich, neben mir steht wer auf und geht und kommt nicht wieder. Irgendwann macht es ›klick‹, der Sync. Ich bewundere die sich drehende makeshift-Hütte der Penelope aus ein paar Holzlatten, umwickelt mit durchsichtiger Plastikfolie. Das Licht und die hautfarbenen Binden, die den Chor kleiden in seiner Choreographie.

Eine Mauer aus Kartons – wie sie den Innenhof der Neuköllner Oper füllte – wird als Vorhang herabgelassen und fällt schließlich in den Bühnenraum. Großformatige Effekte wie das Triptychon bei ›Hunger. Peer Gynt‹ im DT. Eben, vor dem Eingang, parkte ein Tesla, hier wird ein durchlöcherter Panzer auf die Bühne gerollt. Schriftzüge werden entrollt wie Wandtattoos. Den zu dreiviertel enthüllten Schriftzug »die Leere der verlorenen Utopie« nahm ich mit aufs Pissoir; ein White Cube, aus dem mir sonderbarerweise gar keine Schriftzüge, keine Aufkleber, nicht ein gekritzelter Strich erinnerlich sind, stattdessen weiße Wände, weißes Pissoir und ich dachte, dass letztbeste sei doch, dass wir (endlich) blind sind, blind für jede Utopie, schlechthin für jegliches Fragliches, für Fragen, dass wir nichts wissen und nichts hoffen müssen; dass wir, wie Odysseus, einstweilen ein ›Niemand‹ seien.

Nach der Pause: Bequeme poltrone. Ich dachte an ein wirklich gutes Stück, dass damals kurz vor dem Abitur bei uns an der Schule aufgeführt wurde. Der Schriftzug: so unimportant.

Was nicht vorkam: ein Rosinenbomber. Und doch könnte der Rosinenbomber der missing link sein.

2019 März 26 | 28
buchmesse

Am Globus-Gebouw vorbei, komme ich aus dem Flixbus und blicke auf den BAUHAUS-Parkplatz. Dort reihen sich Gartenhäuser in der Morgensonne. Nicht seit 100 Jahren, höchstens seit 1960. Auf einer Fensterfront des sonst fensterlosen Komplexes klebt, übergroß, ein Poster-Diptychon: links ein Ausschnitt auf blühende Blumenkübel über einem sonnenbeschienenen Terrassenuntergrund, rechts ein Interieur, der Blick auf ein rechteckiges Waschbecken, neben dem, akkurat aufgerollt und von einer Schleife aus bronzenem Seidenimitat umschlossen, Tücher, die eher an Servietten erinnern, zum Händetrocknen bereitliegen, es fehlt nur das Besteck. Zwei über die Posterhöhe gestapelte Bauhauskartons blicken keck ins Freie und schieben gleichsam so über den Glanz von Hotellerie wieder einen Begriff von ›Heimwerken‹ ins Bild. »Da schiebt jeder sein Heimweh wie eine schwere Kiste.« (aus Herta Müllers Atemschaukel). // ›Was du auch machst/wenn's gut werden muss‹.

Sarah Wiener ist vor mir an der Reihe bei der Taschenkontrolle. Beim Verlassen des Messegeländes sehe ich sie wieder, neben Max Moor vor der Kamera sitzen. Im Video sehe ich mich später durchs Bild laufen (bei 03:22). Dazwischen war mir, als hätte ich Thilo Sarrazin bei der taz auf dem Sofa sitzen sehen, doch ich muss mich versehen haben. Im ICE, auf der Rückfahrt, hinter mir bewegte sich Dirk von Lowtzow mit einer gewissen Bedachtsamkeit durch das vollbesetzte Speiseabteil. Wie ich mich im nächsten Wagen umdrehe, lehnt er im Durchgang, neben der Einstiegstür, an seinem Gitarrenkoffer – mir leuchtet sein weißer Schopf wie ein Dachshaar-Rasierpinsel; im Umdrehen sehe ich ein Rasierschaumhäubchen und denke an das erste Eis im Frühjahr.

1 Buch gekauft (19,90 EUR), 3 Kaffee getrunken – 2 davon ausgegeben am hallesaale-Stand in Pappbechern gegen die Angabe der ersten Ziffer meiner Postleitzahl, der erste für 3 EUR im Kantinenbetrieb der Messe, immerhin in einer Tasse –, 1 Visitenkarte bekommen. Ich hatte die vage Vorstellung, dass auf der Buchmesse Bücher angepriesen werden würden, nein, die naive Hoffnung, dass die Buchpreisbindung aufgehoben sein könnte, ja, dass Manuskripte, Ideen und Buchbündel seitenweise wie an einer Börse gehandelt werden würden. Aber nur am Stand der China International Publishing Group sah ich Xi Jinpings China regieren zum Sonderpreis (»30€ 10€«). So wurden da halt Bücher präsentiert. Tendenziell ein wenig enttäuschender als auf einer Kunstmesse. Natürlich, schöne Bücher, die Gestaltung der Vorderseiten, zu bewundern und zum Vergleichen. Große Stände wie cewe Fotobuch. Ich gehe gerne durch Auslagen. Einmal die Verlagsprospekte nicht als PDF, sondern ausgedruckt. Am Stand von Hentrich & Hentrich prangt am Drehständer mit den Titeln der Reihe ›Jüdische Miniaturen‹ vorsichtshalber der Hinweis, dass diese nicht einfach eingesteckt werden dürften. An der Garderobe gab ich meinen schwarzen, viel zu warmen Mantel zur Aufbewahrung ab, doch auch so schwitzte ich in Wolle und durch das Koffein in den Messehallen 4 und 5. Ein Teebeutel Hagebutte blutet die weiße Untertasse voll. Ein Käse-Sandwich zerläuft in seiner Folie.

Ich war am Stand der Friedenauer Presse, wo ich in Alexander von Humboldts Tierleben blätterte. 4 Postkarten mit Tiermotiven aus dem Buch nahm ich mit, wobei eine tatsächlich das Verlagslogo, einen Kranich, in einer auseinandergehenden Neuinterpretation zeigte. Naturkunde und Formverlust. Die Cover, die ich aus dem Newsletter kenne, liegen gut in der Hand, nur kaufe ich keines. Jetzt blätter ich wieder im Verlagsprogramm.

Ich gehe zu einer Veranstaltung des Berenberg Verlags. Benjamin Balints Kafkas letzter Prozess wird vorgestellt und die Frage ›Wo gehört Kafka hin?‹ erörtert. Nach Tel Aviv, nach Weimar? Ich stelle mir für Kafkas »Kritzeleien« einen Schrein hineingetrieben in die Chinesische Mauer vor, an einem wenig zugänglichen Abschnitt; ein Pilgerort, ein Dachsbau unter der Mauer hindurch? Beatrice Faßbender und Natascha Freundel auf der Bühne sprechen über das Buch und über Kafka. Kafka wollte mit Dora Diamant ein Restaurant in Tel Aviv eröffnen, dort als Kellner arbeiten. Max Brods frühe Tagebücher sind noch unerschlossen. Auf einem anderen Podium, später, sprechen Steffen Höhne und Alice Stašková über den von ihnen herausgegebenen Sammelband Franz Kafka und die Musik und es heißt, dass Kafka gerne Operetten lauschte. Max Brod vertonte Kafkas Texte, »zu dessen Befremden«. Der Autor, von dessen gestenreicher Sprache (auch im Gegenüber?) Walter Benjamin sprach, interessierte sich auch für die Ergebnisse der lokalen Fußballvereine. Im direkten Vergleich beider Buchdeckel zeigt Kafkas letzter Prozess das interessantere Kafka-Porträt.

Die Pommes XL kosten 6 EUR. Die Sonne scheint. Auf einem anderen Podium moderiert Étienne François zwischen Jörn Leonhard und Maciej Górny. Es geht um beider Bücher zum Ersten Weltkrieg, genauer um beider beider Bücher zum ›langen‹ Ersten Weltkrieg. Beide verorten 1917 als Bruch, als »Binnenschwelle« (Leonhard). Górnys mit Wlodzimierz Borodziej verfasste Darstellung Der vergessene Weltkrieg. Europas Osten 1912–1923 teilt sich in Imperien 1912–1916 und Nationen 1917–1923. Leonhard hat nach Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs (2014), das in Thomas Manns Garten einsetzte, im letzten Jahr Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923 nachgelegt, das an Franz Kafkas Krankenbett seinen Anfang nimmt. Wie lang noch bis zur Lizenzausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung? Und wird auch Górnys und Borodziejs Darstellung hier aufgelegt werden? Werden solche Vereinbarung eigentlich auf der Buchmesse getroffen? Bernd Riexinger wartet schon zur nächsten Veranstaltung – überhaupt ist die Buchmesse ein Schulbeispiel des forciert-fliegenden Wechsels der Podiumsbesetzung –, Étienne François schließt salomonisch mit dem Urteil, dass sich beide Darstellungen ergänzen würden. Eine ältere Frau kracht vom Bistrotisch, dessen Tischplatte unter ihr – zwei kleine Schrauben fliegen weg wie Splitter – vom Standfuß bricht. Denis Scheck grinst von unzähligen Tragetaschen.
»Fehlen Sandsäcke, so ist der Graben mit Erde, auch feindlichen Leichen zu verstopfen«, lautet ein Zitat, das Leonhard in der Büchse der Pandora (Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2014, S. 550) anführt, um die Reduzierung des menschlichen Körpers auf ›Füllmaterial‹ zu belegen. Er zitiert hier nach »Raths, Die Überlegenheit der Verteidigung, S. 396« und übernimmt damit auch dessen falschen Nachweis, wonach sich der Satz in den »Vorschriften für den Stellungskrieg aller Waffen, Bd. 2, S. 69« fände. Tatsächlich hat die betreffende Veröffentlichung jedoch nur 36 Seiten. Sie ist indes nach Absätzen gegliedert und es mag sein, dass Raths in seinen Exzerpten dadurch durcheinander kam, dass in Absatz 69 auf Seite 33 auch von »Sandsäcken« als Füllmaterial die Rede ist, siehe Vorschriften für den Stellungskrieg für alle Waffen. Teil 2. Minenkrieg. Vom 19. April 1916. Herausgegeben vom Kriegsministerium. Berlin 1916, S. 33. Der gesuchte Satz findet sich stattdessen in den Richtlinien für die Ausbildung des Kriegsersatzes 1916. Bearbeitet und hg. vom Kommando des Ersatzbataillons 2. Garde-Reserve-Regiments. Zweite, vervollständigte Auflage (4.–13. Tausend). Berlin 1916, S. 69. Nicht minder interessant ist dabei vielleicht der direkt darauffolgende Satz: »Das rasche Hinauswerfen der Gefallenen aus dem Graben ist auch wichtig und zu üben.«

Donauschwaben der poppige Titel des Bandes, den ich schließlich kaufte, der nun weiterhin verschweißt in meinem Zimmer liegt. Ich war bei der Buchvorstellung und dachte mir den Band als Völkermühle Europas. Migrationen an Rhein und Mosel, dessen Cover ich (im Prospekt) auf dem Historikertag bewundert hatte, das ich immer wieder vor mir sehe, – nur für die Donau. [an diesem Punkt kickt Egyptrixx’ ›Liberation Front‹ rein, bei mir beim Schreiben; spätere Höhepunkte des Wiedergabeverlaufs sind ›September (Hesse)‹ von Richard Strauss, Elvis Presleys ›Never Been to Spain‹; davor schon ›IntroXXXWar‹, der Opener des Albums IN.RAK.DUST~~] Der Einband ist nicht schön, wobei, mit dem Abstand aus der dritten oder vierten Reihe, mit dem ich das Buch auf dem Podium aufgestellt sah, wirkte es anziehend. Ich werde es öffnen und reinschauen, … es duftet, die Seiten voller Abbildungen. Die Bezeichnung ›Donauschwaben‹ wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg erfunden und hat damit vielleicht dieselbe Aussagekraft wie das in Berlin zirkulierende Begriffsverständnis von ›Schwaben‹. Bezeichnend auch, dass ein sogenanntes donauschwäbisches Wappen erst 1950 entworfen wurde, von einem »gebürtigen Banater Schwaben [...] in seiner neuen Heimat, der Bundesrepublik Deutschland«, für die ›Heimattreffen‹ sozusagen [Gerhard Seewann und Michael Portmann, Donauschwaben. Deutsche Siedler in Südosteuropa. Potsdam 2018, S. 17]. Ulmer Schachtel und Atemschaukel. 1954 schuf Max Bill an der Ulmer Hochschule für Gestaltung den ersten ›Ulmer Hocker‹. »1927–1928 studierte er in Dessau am Bauhaus, wo zu dieser Zeit Josef Albers, Wassily Kandinsky, Paul Klee, László Moholy-Nagy und Oskar Schlemmer lehrten.« Dass ein Kamel unter dem Ulmer Hocker hindurchgehe.

2019 März 11
kurzkritik
theater

DT
der tempelherr. ein erbauungstück
von Ferdinand Schmalz
7.3.19 19:30 letzte Reihe
EUR 9,00

Das neue Stück von Ferdinand Schmalz ist da! [D]er [T]empelherr heißt es, und im Untertitel: »ein [E]rbauungsstück«! Aufgeführt auf der mittelgroßen Bühne des Deutschen Theaters und damit eine Nummer größer als das schmierig-geschmeidige [H]erzerlfresser-Kabinettstück in der ›Box‹ vor ein paar Jahren. Vorhang frei: und ein Bühnenbild, das gar nicht nötig wäre. Im ersten Moment gewaltig, doch dann bitte abblenden. Zurück in die ›Box‹ und ganz dicht ran das Ohr an die gewundenen Wortgirlanden, auf Augenhöhe mit der Schubkarre (die hier fehlt). Das hier, das erinnert an Luke Skywalkers abgestürztes Monstrum auf dem Planeten Yoda im köchelnden Sumpf, hier im Projektionengewitter und mit Fever-Ray-Gedächtnismasken. Auch im [H]erzerlfresser stak Sumpf, der Sumpf vor dem Dorfe, mit dem neu errichteten Einkaufszentrum, das schon wieder wegsackte. Hier war auf der Bühne etwas im Wege, nicht nur die eng geschnürten Kleider, dem statischen Spiel war kein Platz gelassen. Kein Rondo über den Bühnenboden, wie in Hunger/Peer Gynt.

Aus in die Provinz, Pampa, Prairie – ein blödes Triggern von »Gefährder« und »Wir schaffen das«, ich wartete nur noch auf den Wolf (und das wäre vielleicht was geworden mit einem tanzenden Wolf, mit dem Wolf als Gefährten des Bauherrn, als Ziehmutter des verwilderten Kleinen). Ich wartete auch darauf, wie Heinar nun das Nachbargrundstück da in Bornhagen (Hygge, Höcke, Hockergräber) bebaute. Das Bauprojekt auf dem Land, das zu bebauende Land, die Lichtung, hier heideggerianisch brämend bla und bla – dann die schöne Volte, die Bremse: die schönste Figur im ganzen Stück [neben der Figur der Mutter Petra, bis zur Szene der Geburt]. Die Bremse mit ihrem Facettenauge, der facettierte Blick der Bremse über der Lichtung. Die blutbetankte Bremse, die fliegen kann. Der Junge mit den Facettenaugen der Bremse indes nicht, er stürzt klassisch (geblendet). Ikarus wird genannt, doch ist es eher There Will Be Blood (USA 2007).

Wie viel er hätte machen können mit diesem Stoff! Die sieben Himmelspaläste Anselm Kiefers als Prepperbunker in den Untergrund verlängern, das heart of darkness des herzerlfressers von Tim Burton apportieren lassen, einen Chor singen, die Nacht fliegen, ein weibliches Projekt erzählen lassen. Alles auserzählen lassen.

Der Hausbau. Der Hausbau steht auf der Stätte der Toten. »The House of Raoul Villains in Bay of Cala de San Vicent as it stands in 2013«. Da ist er, der Tempel des »Irren vom Hafen«.

2019 Januar 6 | 12
neukölln

War eben Joggen, 37 Minuten durch Neukölln.*

* Die Vokabel ›joggen‹ mag mittlerweile eher den süßlich-abgehangenen Charme einer auf dem Heizkörper trocknenden, schweißnassen Jogginghose verströmen, überhaupt dem Mikrokosmos ›Couch‹ statt dem Begriffsfeld ›Laufen‹ verhaftet sein, wenn sie nicht als Ausweis chic-selbstbestimmter (Nach-)Lässigkeit ausgeführt wird – nur bitte niemals schwitzend, denn dafür gibt es Funktionswäsche, sondern leger getragen gegen den Unbill dieser Welt, die Hände in den Taschen vergraben, Display und nackte Knöchel (flanking), kurz: Ich wohn' in meiner Hose. Wobei der reiche Baumwollstoff der Jogginghose wohl zu unterscheiden ist vom dünnen Textil des Trainingsanzugs.

Jedenfalls bin ich durch das Neuköllner Gewerbegebiet gejoggt, mit seinen Röstaromen von Tabak und Kaffee und Feinstaub. Weitestgehend weich gepolstert auf zerdrückten Feuerwerksrestkörpern, teils knirschend auf Rollsplitt und schiefen Gehwegsplatten. Mit Ausblicken aufs Estrel, das bei der Querung des Neuköllner Schifffahrtskanals jedes Mal dalag wie eine Sphinx. Ich weiß, weiter unten, am 13. August 2017, habe ich das Estrel als ›Taj Mahal‹ bezeichnet, doch handelte es sich dabei um eine schemenhafte Allegorie zur Seitenansicht, wie sie sich etwa vom Außenbereich des McDonald's zeigt, wenn die Breitseite des Estrel-Baus aus der Ferne in mildem Abendlicht leuchtet und wie flirrend schwebt über der staubig-sandigen Großbaustelle. Hier ist die Frontansicht gemeint, wie sie sich auf der Brücke zwischen dem Parkplatz der Berger-Reisemobile (Wohnmobilverkauf und -vermietung seit 1984) und dem ISOGON-Fenstersysteme-Schriftzug mit dem warnenden Smiley linkerhand auftut; aufragend wie in Kobra-Stellung (Yoga) oder eben die Sphinx, wenn auch etwas weniger grazil, eher klobig und ›nur Nase‹, ohne weitere Ausformungen und Partien.

Die Niemetzstraße entlang, unter den Ringbahngleisen hindurch nach Süden, wird Neukölln vom Wohn- zum Gewerbegebiet. Zapf-Umzugscontainer stapeln sich, leere Ladebrücken, ruhegeparkte Touristenbusse. Die Werbeplakate finden wenige Blicke; McFit feuert an (›Das wird dein Jahr‹), manch vorweihnachtliche Kontraposition ist verschwunden, wie jene von alladventlichen Spendenaufrufen neben der Rückkehrer-Prämien-Kampagne des Innenministeriums oder dem Mittelfinger von Auto-Teile-Unger.

Mit geschätzten 37 Minuten Laufzeit war ich heute etwas länger unterwegs als Bezirksbürgermeister Martin Hikel, der vormittags in 35 Minuten und 56 Sekunden eine Distanz von 6,31 Kilometern überwunden hatte, wofür er laut den allsonntäglich auf Twitter bereitgestellten Runtastic-Werten 5397 Schritte benötigte. Lieber Angaben selbst leaken statt geleakt werden.

Ob das Leaken in selbstoffenbarender Absicht vielleicht mit Chris Burdens (1946–2015) ›Full Financial Disclosure‹-TV spot aus dem Jahr 1977 seinen Anfang nahm? »In keeping with the Bicentennial spirit, the post-Watergate mood and the new atmosphere on Capitol Hill, I would like to be the first artist to make a full public financial disclosure« – nach diesen Worten legte Burden, vor einer amerikanischen Flagge sitzend, in dem kurzen Clip, der im Werbeblock eines lokalen Fernsehsenders ausgestrahlt wurde, seine Einkünfte und Ausgaben für das abgelaufene Jahr offen. Demnach durfte er sich über einen Reingewinn von 1 054 Dollar freuen.

Ich jogge die Neuköllnische Allee entlang an Philip Morris vorbei, deren Kippen gut zwischen Burdens Lippen passen würden, am Schnauzer kokelnd, das 70er-Jahre-Braun des zackigen Zauns um das Gelände bewundernd und biege rechts in die Haberstraße ein, an der Al-Nur-Moschee vorbei, auf der Gegenseite grüßt vom Dach der Marlboro-Cowboy als platte Silhouette mit Lasso. Das Röstaroma von Tabak liegt in der kalten Luft. An der nächsten Ecke biege ich in die Bergiusstraße ab, zurück gen Norden. Gegenüber wirbt die Bahama Warenvertriebs GmbH mit Plakaten für günstige Haushaltsgeräte, ein Gebäude weiter wird Märkisches Landbrot gebacken. Der Autoverkehr nimmt zu, es geht Richtung Autobahnauffahrt an der Kreuzung Bergiusstraße/Grenzallee, ödes Terrain. Auf der einen Seite wieder eine große Baustelle mit schwimmendem Wittmann-Ponton, gegenüber thront grell-rot ein neuer KFC. Die Grenzallee entlang noch einmal über den Kanal, wieder mit Blick gen Estrel, unten gabelt sich der Flussweg in ein Anlaufbecken zu Tchibo – Röstaroma von Kaffee diesmal über dem Blick – und eine weiterführende Schleuse. Auf der Halbinsel in der Mitte türmt sich ein akkurat sortierter Berg an Metallschrott. Nach rechts biege ich in die Naumburger Straße, komme am wilden Flohmarkt auf dem OBI-Parkplatz vorbei, wo viel los ist. Videospiele, Geschirr, alte Elektrogeräte, eigentlich alles Mögliche findet sich hier. Früher einmal, ich erinnere mich, erstreckte sich die Auslage auf den Lidl-Parkplatz, doch der ist heute mit einem Flatterband abgesperrt, jemand auf einem Klappstuhl wacht davor.

Auch Burden, bekannt weniger für seine full disclosure-Erklärung denn für seine Performance-Stunts, angefangen mit den fünf Tagen, die er als Abschlußarbeit in einem Schließfach seiner Uni zubrachte (Five Day Locker Piece, 1971) über den berüchtigten Gewehrschuss in den Oberarm (Shoot, 1971) oder der Aktion, wie er sich in eine Plane gehüllt in der Dunkelheit auf den vielbefahrenen La Cienega Boulevard legte (Deadman, 1972) bis hin zum quälend-eindringlichen Video, wie er langsam, mit hinter dem Rücken verschränkten Armen (gleichsam in der Positur des Flaneurs) durch Glasscherben robbte (Through the Night Softly, 1973), – auch Burden also ließe sich vielleicht in Verbindung setzen mit dem Joggen, jedenfalls unter der Prämisse, dass auch für James F. Fixx, ›Vorläufer‹ (im Sinne von ›Auslöser‹, ›treibende Kraft‹ und ›Gesicht‹ sowie ja auch ›front-runner‹) der Jogging-Bewegung als Autor von Bestsellern wie The Complete Book of Running (1977), das Joggen mit einem großen Risiko verbunden war, galt er doch aufgrund einer langjährigen ungesunden Lebensführung (Raucher, Übergewicht, Stress; zumindest bis zum ›Konversionsmoment‹, infolgedessen er mit dem Dauerlaufen, also ›Joggen‹, anfing) und erblicher Vorbelastung als Risikopatient. Sein Vater war mit 42 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben, ihn selbst ereilte der Herztod 1984 mit 52 Jahren (beim Joggen). Diese Tragik verleitete wohl die Londoner Sunday Times zu der trockenen Sentenz »Joggers die fitter« – indes der Präsident des New York Road Runners Club im Nachruf der New York Times vorschnelle und vor allem wohlfeile Diagnosen mit dem Kommentar »Maybe if Jim Fixx didn't run, he'd have died five years ago« zu kontern wusste. Dem Artikel war überdies zu entnehmen, dass Fixx, als er 1967 mit dem Laufen anfing, in seinem Heimatort Riverside noch kopfschüttelnd als »that man who runs in his underwear« bezeichnet wurde. Bis zur Jogginghose, ja bis zum Siegeszug von atmungsaktiver Funktionswäsche war es wohl noch ein langer Weg.

Dass dieser beschritten wurde, scheint unbestritten, was nicht zuletzt ein Blick in den Eintrag für das Wort ›Jogging‹ auf duden.de zu zeigen vermag: Als »Fitnesstraining, bei dem man entspannt in mäßigem Tempo läuft« wird die Tätigkeit dort definiert, wobei hier vor allem der Begriff ›Fitness‹ ins Auge springt, der in diesem Zusammenhang wohl erst kürzlich hinzugefügt worden sein wird. Es ist jedoch nicht zuletzt die der Definition beigegebene Bebilderung – es handelt sich um das Foto eines ›joggenden‹ Paares (ein Mann und eine Frau), beide in engen Laufhosen und neonfarbenen Laufshirts, wie aus dem Tchibo-Prospekt –, die die Diskrepanz vor Augen führt zwischen der sozusagen ausgeleierten Unterwäsche des Pioniers und der »formbeständige[n] Thermo-Lauftight« aus »DryActive Plus-Gestrick« heutiger Wiedergänger.




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2018 Oktober 27 | 28
kurzkritik
theater

DT
Hunger. Peer Gynt
nach Knut Hamsun/Henrik Ibsen
in einer Bearbeitung von Sebastian Hartmann und Ensemble
26.10.18 20:00 Reihe 6 Platz 10 Parkett Rechts
EUR 6,00

Ich ging in diesen Abend ohne Vorhaltungen, ohne Erwartungen, wusste nicht einmal, von wem dieses Stück Peer Gynt sei. War auch spät angekommen (saß aber gut). Kunstnebel auf der Bühne. Der Hinweis in den Übertiteln, die Reihenfolge der Szenen sei improvisiert. Die Reihen dicht besetzt. Der Projektor und zwischen den Polstern wird es warm.

Der Beginn beliebig; Nebel und Irrlichtern. Zuletzt zweimal in Lenz und Holozän gesehen, ohne Zutun – hier nun jedoch rastete ich allmählich ein, der Sync gesetzt und ich lief mit, mittendrin war ich fully into it – EccCE, ich hab alles hab ich eingesehen, & den Mund weit aufgerissen – erst hinten heraus lief es mir dann wieder gleichgültig an mir vorbei.

Der Begriff brainstorming als zutreffende Beschreibung der Bewegungen der ersten Akte – letzthin wurde ein 4. angesagt –, mit der Betonung auf storm (auch im Sinne der Werke von Storm Thorgerson). War nicht das Bühnenbild in seiner ersten Projektionsebene ein Mahlstrom? Speiste nicht auch die Soundkulisse Rauschen ein? So sich in Kantes ›Ich hab’s gesehen‹ die Sprachbilder elementar türmen (»das Wasser in den Flüssen aufwärts ziehen«), nur hier – wie in Tocotronics ›Hi Freaks‹ – sie filigraner kreiseln (zoom out/opt in). Die Reihungen reihen sich aneinander an (und ab). [Die Scharte wetzte sich der Katholik/müde Finger kreisen um das Abflusssieb und fingern/Funken graue Asche, Flusen aus dem Bauchnachbabel.] Auch stream of consciousness natürlich. Es wurde kein Holz geschlagen.

War dies eine Strategie der Überwältigung? Nein, auch die sprachlichen Ausführungen, leise gesprochen, zeichneten sich ab, nicht monumental sondern mit dem Bleistift »wie ein kleiner Mensch«, Striche wie eine erlahmte Stechmücke, die noch im kalten Herbst meine weißen Wände sinnlos anstarrt, bald starr die Beinchen von sich streckt.

Auch gleich der Gedanke: Fever Ray. Die Musik, die Lichtinstallationen – die beiden kaltweißen Neonröhren am rechten und linken Bühnenende –, die Masken, die Skandinavistik (mir nach), der Nebel, die Ästhetik. All boxes ticked: I checked. (2009 sah ich einen Auftritt, da(s) hat sich mir da(s) eingeprägt.) Die Lichtinstallationen, das Halblicht, die Schemen, das war wirklich schön – das sieht man nur in echt, nicht am Screen, diese Schattierungen.

Das Triptychon: der monumentale Moment wie die Leinwand dreigeteilt und im Interlude (der offenen Pause) gewendet wurde (auf den Kopf gestellt). Davor, as if he was dancing to exhaust it, zur Erschöpfungsbewegung, ein Arbeiter – aus dem Trio, das ich schon in König Ubu in der Box des Deutschen Theater bewundert habe (hier nur zu zweit, wenn ich mich richtig erinnere an gestern) –, der nun, so dachte ich, drauf und dran war, in die Leinwand zu springen (was aber zu sehr action painting wohl gewesen wäre, nach Art Bruts »and run at it!«). The ›joy of painting‹, ja auch, aber paint it black (and paint it white & grey). Begleitet von monumentalen Klängen ähnlich jenen zwischen Kubrick und Warsteiner. Strauss – Ein Bombasmus: wie die Sprache die hochmodernen Sprachschwierigkeiten abtickte – kurz-lang, lang-lang-kurz –, so kreiste die monumentale Leinwand einen Walzer auf der Bühne.

Die brachiale Musik, der brachiale Sound. Einmal, vielleicht ein Fehlgriff (und wieder gingen viele Alte), wurde ein hartes Trap-Rap-Sample eingespielt.

Die schwarze Spitze, die Masken, die weiße Spitze, die Tattoos, die Bemalungen. Goth Chic? Fun, nur einen upbeat jogwheel turn weiter, wäre vielleicht die Brechung durch Health Goth gewesen. Vielleicht ein bisschen Chairlift?

Dass der Regisseur zuvor Ulysses inszeniert hat, passt, denn das geht hier so weiter (ja, Chairlift, das wär doch was: »Is it amnesia?/Amanaemonesia/Mistaken for magic«) (ich hielt eben aber auch Friedrich Liechtensteins ›Badeschloss‹ für passend) – Regen, die Monologe habe ich vergessen, aber schön. Ich hielt auch Terrence Malicks Knight of Cups für den besten Film als ich – Berlinale 2015 – aus dem Friedrichstadt-Palast kam. Bildergewitter, wie auf rosebud durch den Geburtskanal schießend: »Guardate che vista« (lo spot durex anni 2000 su MTV).

»[I]ch suche
nach einem theatralen Ereignis«, sagt Sebastian Hartmann im Programmheft (S. 17).

Die überlangen Zylinder – war ich gleich bei Neo Rauch auf der Leiter, hinabgestiegen von seinen Gemälden.

In ihrem Monolog lachte ein älterer Mann auf – nicht eben freundlich –, er stand dann auch recht bald auf und ging durch die Reihe die Tür hinaus.

Ich will es mir nochmal ansehen, auch die Texte – Hamsuns Hunger, Ibsens Gynt
lesen, grinden, ergründeln, Mahlstromgrund flundern.

Das Atelier als Ort des 19. Jahrhunderts.

2018 Oktober 5
historikertag

S p l i t t e r vom Historikertag ›G e spalte ne Gese llscha f ten‹


Gesucht, auf diesem Historikertag – dem 52., vom 25. bis 28. September in Münster –, war der/die engagierte Historiker/in: Lutz Raphael hatte im Juli bereits mit einem differenzierten Beitrag im Blog des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) einen vielversprechenden Auftakt gemacht. Nun diskutierte er als Teil eines neunköpfigen Podiums, das wohl in Anlehnung an seinen ›Auszug aus der Komfortzone?‹ betitelten Kommentar mit ›Die Komfortzone verlassen?‹ überschrieben war. Die stellenweise leicht erratische Diskussion – etwa in der Frage bei welchen Diskussionsteilnehmenden eine Spaltung in Bürger/in-pars und Historiker/in-pars bestünde – konzentrierte sich zuletzt auf den vorliegenden Entwurf einer »Resolution zu gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie«, der anderntags in der Mitgliederversammlung des VHD dann auch eine Mehrheit finden sollte: War diese Stellungnahme nun zu harmlos? War sie zu politisch? Würde es schon ausreichen, im Fachkonsens eine Auswahl an »Grundhaltungen« zu bekräftigen oder war es nicht vielmehr Zeit für eine erste Ursachenforschung, für die Frage, wie es so weit hatte kommen können? Wäre es nicht überhaupt angebracht, ein offensives Bekenntnis zu den normativen Grundbedingungen des eigenen geschichtswissenschaftlichen Arbeitens hierzulande abzugeben? Dass diese in anderen, autoritär regierten Ländern sehr viel prekärer wären, daran erinnerte der Osteuropahistoriker Jan C. Behrends mit der Bemerkung, wonach die Komfortzone »an Oder und Neiße« ende. Behrends warb für mehr grenzüberschreitendes fachliches Engagement, in Netzwerken wie ›Historiker ohne Grenzen‹ oder dem aus der ›Berlin-Brandenburg Ukraine Initiative‹ hervorgegangenen Forum ›Prisma Ukraïna‹.

Diskutiert wurde nicht zuletzt auch über das Verhältnis von Historiker*innen zu ›den‹ Medien, wobei auch Vorurteile zur Sprache kamen: Könne auf die notwendige Gabe zur Differenzierung beim Gegenüber vertraut werden? Wären nicht Historiker*innen generell darauf aus, große Erzählungen zu dekonstruieren, wohingegen die Medien gerade auf diese zurückgriffen? Guido Knopp schwebte abgehangen als Watschenmann über dem Podium. So war zwar der Historikertag 2018 erstmals mit einer eigenen App ausgestattet – die kurioserweise mit einem eigenen Chat suggerierte, dass jede/r, die/der die App startete, nun Christopher Clark (oder jedwede/n andere/n auftretende/n Historiker/in) einfach anchatten könne –, aber was die mitunter problematische Medialisierung von ›Geschichte‹ anging, wurde weiterhin Knopp hingehängt und über die Differenzierungsfähigkeit der Bild-Zeitung gestritten. Dabei hatte Raphael im Juli bereits gefordert, die »Verschiebungen ernst [zu] nehmen, die sich zurzeit im Feld der politischen Kommunikation vollziehen«, wobei es »ebenso sehr um Formate wie um Inhalte« zu gehen habe. Einzig Uffa Jensen vom Zentrum für Antisemitismusforschung wies auf dem Podium auf die medialen Strategien der AfD hin und die Gefahr, sich diesen im Sinne einer »Erregungsdemokratie« auszuliefern.

Andere Friktionen traten indes im Verhältnis von Promovierenden und Promovierten zutage, was zu einem offenen Briefwechsel und einem Beinahe-Eklat bei der Preisverleihung im Posterwettbewerb des Doktorandenforums führte(, auch die nach Ulrich Raulffs Vortrag eingemummelt schlummernden Gäste wieder Hälse recken ließ). Weit weniger beachtet und spärlicher gesät – man könnte hier eher das Kirchentagsmotto von 2009, ›Mensch, wo bist du?‹, in Erinnerung rufen – waren die Studierenden, die sich, nach meinem Eindruck, nur recht vereinzelt in die Sektionen verirrten. Tout court: Der Historikertag ist keine Veranstaltung für Studierende. Er ist, polemisch gesagt, ein ›Klassentreffen‹ von Historiker*innen, die drumherum in Sektionen ihre bereits vielfach in Kolloquien erprobten Vorträge hier, womöglich geringfügig dem Leitthema angepasst, verlesen, woraufhin sich nach einer Abfolge von üblicherweise vier Vorträgen ein meist bereits vorformulierter Kommentar anschließt, woran sich schließlich eine kurze Diskussion anfügt, die immer unter dem Vorbehalt der unbedingt mit einer »Punktlandung« zu terminierenden, mittlerweile gleich ablaufenden, für gewöhnlich ohne Unterbrechung durchgezogenen Dreistundenfrist steht. Gerne auch: ›Es gibt Probleme mit dem Beamer.‹ Aber danke, ›eduroam‹, immer alles gut!

Studierende waren beim Historikertag also rar. Dabei fand sogar erstmals ein von der Fachschaft initiiertes ›Studierenden-Panel‹ statt – mit sogar zwei Promovierenden im Publikum. Unter der Leitung von Matthias Sandberg und Christoph Lorke (promoviert!) stellten drei Studierende ihre Forschungsprojekte vor: Es ging um die Darwin-Rezeption bei St. George Mivart (On the Genesis of Species, 1871), um »Muster der Ethnisierung von Sexismus im medialen Diskurs der 1970er und 1980er Jahre in der BRD« und um serbische Geschichtspolitik (u. a. mit einer Auswertung von Online-Kommentaren). Diskutiert wurde nicht nur über die Vorträge, über unterschiedliche Methoden geschichtswissenschaftlichen Arbeitens (historische Diskursanalyse, Oral History) allgemein, sondern auch über den Historikertag aus studentischer Perspektive.

Was mir als Student dann wiederum ganz entgangen war, ist das Schülerprogramm des diesjährigen Historikertags: »Der Hörsaal H1 ist proppenvoll. Hunderte Schüler sind gekommen, um am Schülerprogramm des 52. Deutschen Historikertages teilzunehmen«, schrieben die Westfälischen Nachrichten, was der Historikertag auf Twitter (›@historikertag‹) wiederum mit dem Hashtag ›#nachwuchsrockt‹ versehen teilte.

›Gespaltene Gesellschaften‹ – bisweilen leidiges Leitthema des Historikertags: Hatte bereits Wolfgang Schäuble in seiner Rede bei der Eröffnungsfeier einem daraus vermeintlich abzuleitenden Ruf nach einer »homogenen« Gesellschaft eine Absage erteilt, so versuchten sich im weiteren Verlauf des Historikertags andere am Aufzeigen einer positiveren Vision eines begrifflichen Gegenstücks zu ›Spaltung‹: »Solidarität« (Anna Karla), »Differenzierung« (Rudolf Stichweh) lauteten zwei Vorschläge. Thomas Mergel definierte ›Spaltung‹ als »eindeutige Differenzierung eines Teils der Gesellschaft von einem anderen«, nicht entlang eines Kontinuums, sondern diskontinuierlich. Stichweh, Soziologe, unterschied daran anschließend drei Mechanismen der Spaltung: »persistente, diskontinuierliche Ungleichheit«, »asymmetrische Abhängigkeit« und »inkludierende Exklusion«. In Mergels Einführung schien zuletzt ›Konsum‹ als das die Gesellschaft letztlich einende / versöhnende / befriedigende Element aufzuscheinen. (Erinnert das nicht ein wenig an die posthistorische »Haltung des Endverbrauchers« [Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne. Suhrkamp Taschenbuch. Erste Auflage 2015, S. 469], die Peter Sloterdijk im Rückgriff auf Max Stirner ausmacht?) In derselben Sektion lancierte der Frühneuzeithistoriker Peter Burschel die These von der Geburt der Moderne aus dem Geist religiöser Spaltung.

In der Sektion ›Mussolini transnational‹ wurde der Versuch einer »doppelten Entgrenzung« (Daniel Hedinger) der Erforschung globaler Faschismen unternommen, d. h. ohne zeitliche Begrenzung auf die Zwischenkriegszeit und den Zweiten Weltkrieg und unter Berücksichtigung der globalen Rezeption des Faschismus. Dieser könne als »Verflechtungsgeschichte« – etwa im japanisch-italienischen Fall – untersucht, aber auch als »Produkt gesteigerter Globalität in der Zwischenkriegszeit« wie als »Träger von Globalisierung« verstanden werden: Mussolini als »media celebrity« (Janis Mimura), nicht nur in Japan sondern weltweit. Die Audienz bei Mussolini wurde für Mächtige und Berühmte Teil einer neuen ›Grand Tour‹ durch Italien, wie Lutz Klinkhammer berichtete. »In India there are no fascists«, versuchte Jawaharlal Nehru 1938 in einem Interview zu beruhigen, wie Maria Framke in ihrem Vortrag über die Wahrnehmung des faschistischen Italiens in Indien berichtete. »We are very well aware of what Berlin, Rome and Tokyo want but we shall never allow the forces of our national anti-imperialist movement to be harnessed to their carriage«, versicherte Nehru weiter. In dieser ›nationalen anti-imperialistischen Bewegung‹, die indes die internationale Vernetzung suchte, war der Unmut über den Völkerbund verbreitet, weswegen Alternativen wie die ›League against Imperialism‹ bzw. ›League of oppressed Nations‹ [Maria Framke, Anti-Koloniale Solidarität? Der Abessinienkrieg, Indien und der Völkerbund, in: Sönke Kunkel und Christoph Meyer (Hg.), Aufbruch ins postkoloniale Zeitalter. Globalisierung und die außereuropäische Welt in den 1920er und 1930er Jahren. Frankfurt am Main 2012, S. 190-208, hier 202 und 206.] Unterstützung fanden – eine Linie, die sich vielleicht bis in D'Annunzios Fiume-Laboratorium 1919 zurückverfolgen ließe, wo sie als ›Lega di Fiume‹ bzw. ›Lega dei Popoli Oppressi‹ durchaus ein internationales Interesse fand, und sich im Folgenden vielgestaltig durch die Zwischenkriegszeit zog: in der Weimarer Republik vorzufinden in der Forderung des NSDAP-Mitglieds Gregor Strasser nach einem »›Völkerbund der Entrechteten‹ unter deutscher Führung« [Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, Bd. II, hg. v. Christian Hartmann u. a. im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte. München–Berlin 2016, S.1654 Anm. 56.] im Völkischen Beobachter 1925 oder bei KPD-Mitglied Willi Münzenberg, der zur selben Zeit in Berlin eine internationale ›Liga gegen koloniale Unterdrückung‹ gründete (um nur zwei Perspektiven aufzuzeigen). Die Idee hatte schließlich auch Einfluss auf die Entstehung der Bewegung der blockfreien Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg.

Italien im 19. Jahrhundert betreffend blieben mir aus der Sektion die Begriffe ›Lokalismus‹ und ›Campanilismus‹ als konkurrierende Bindungen zur letztendlich erfolgreichen ›Integrationsideologie‹ des Nationalismus im Gedächtnis. Auch von den »piccole patrie« war die Rede. Ein anderer Topos – der ›Eklektizismus‹, den Antonio Canova und Ludwig I. von Bayern je bei der Einrichtung ihrer »Nationalpantheons« (Eveline Bouwers) an den Tag legten – ließe sich vielleicht fruchtbringend damit in Beziehung setzen. Ist nicht auch der Nationalismus vielleicht eingangs als Eklektizismus überregional vernetzter Privilegierter zu begreifen? Eklektizismus als Privileg des homo optionis? Und kommentierte – und reklamierte damit für sich – dann nicht eine bürgerliche Öffentlichkeit zusehends die Walhalla-Bestückungspraxis des bayerischen Königs? Kann nicht durch die Kontraposition von ›Campanilismus‹ mit ›Eklektizismus‹ eine Rückbindung der Diskurse des Nationalen versucht werden? D. i. die Konstruktion des Nationalen, ihre ›Erfindung‹, ›Bestückung‹? Und: Das Pantheon als imaginäres Parlament der Besten? Wer landet im Depot, wer wird ausgestellt?

Burschels These und Stichwehs Bemerkung aufgreifend, gehen dann ›Differenz‹, ›Eklektizismus‹, ›Optionen‹ als ›Momente des Modernen‹ in dieselbe Richtung? Ist ›Spaltung‹, ist ›Differenzierung‹ eine Form der Anwesenheit in der / Teilhabe an der Moderne? Spaltung als Form der Differenzierung (Ausdifferenzierung) in der Moderne? »Dispersion führt dazu, daß es keine Instanz mehr gibt, ›die im Stande wäre, all diese [...] Funktionen in für die Mehrzahl der Zeitgenossen plausibler Weise zugleich zu erfüllen; in diesem Sinne gibt es 'Religion' nicht mehr‹.« [Franz-Xaver Kaufmann zit. n. Michael N. Ebertz, Research Report: Forschungsbericht zur Religionssoziologie, in: International Journal of Practical Theology Bd. 1 Heft 2, 1997, S. 268–301, hier 297f.] Gleichzeitig aber auch die gegenläufigen Momente der Entdifferenzierung, der Verengung, Vermengung, der Unfreiheit, der Innovation und des Synkretismus etwa des Fundamentalismus, der Farce und des Pastiche?

Das ›Globale‹ – das ›Pauschal-Globale‹ – wurde in den Sektionen gerne abgewatscht, stattdessen: Plädoyers für die europäische Dimension, für den Mikrokosmos, bevor es dann ins Transnationale gehe.

Das 18. Jahrhundert als »black box« (Burschel) aus der Perspektive der Frühen Neuzeit (in Bezug auf die These von der Geburt der Moderne) – und auch vom anderen Ende des (Zahlenstrahl-)Spektrums her, aus dem 19. Jahrhundert, wird das 18. Jahrhundert hoch gehandelt. Ein Vergleich der Reformmodelle in Europa, der ökonomisch begründeten Bereitschaften zur Reform, der vielfachen Aufklärungen im 18. Jahrhundert, wäre, so hieß es etwa in einem Kommentar Ute Planerts, ein spannendes Forschungsprojekt, nicht zuletzt als Vorgeschichte zu den napoleonischen Reformen, so dass Napoleon als Anfang relativiert werden würde. Das 18. Jahrhundert also als das spannende ›Dazwischen‹?

Vor der Sektion ›Fleisch (nicht) essen‹ am Freitagnachmittag aß ich noch schnell in der Mensa im Untergeschoss einen Teller ›Lasagne Bolognese‹ – das letzte verbliebene Gericht zur Auswahl – und stieß dann mehrfach auf in der Sektion, im inwendigen Miterleben des Gehörten: von bundesrepublikanischen Zweinutzungsrindern, »unfreiwilligen Vegetarier_innen« (Laura-Elena Keck) im Kaiserreich zu den Konjunkturen des hiesigen Verzehrs von Hundefleisch (mit München als Hochburg um 1900).
Da spürte materiell-semiotisch Mieke Roscher der Historizität von Fleisch nach in ihrem Vortrag ›Was ist Fleisch?‹, der Entstehung von ›Fleisch‹ als kulturellem Prozess, gekennzeichnet durch die Aufteilung von Produktion und Konsum.
Bei Veronika Settele ging es um die Ankunft des Steakhouse in Deutschland, um Kühe als Steaklieferanten – nicht mehr »Zweinutzungsrindern« –, um die »Färsenvornutzung«, um die ›Revolution im (Kuh)Stall‹, weswegen an dieser Stelle auch auf die entsprechende Episode in Philipp Janssens Podcast-Reihe ›Anno Punkt Punkt Punkt‹ verwiesen sei. [13]

Wilde Ameisen, die nach Zitrone schmecken. Mehr nicht als dieses Detail blieb mir im Gedächtnis von Ulrich Raulffs langsamen, löchrigen Vortrag beim Festakt in der kalten Überwasserkirche Münsters am Abend des 27. September. Ob er indes aus eigener Erfahrung sprach oder aus dem Wissen von Überlebenskünstler(inne)n referierte? Zum Leitbegriffspaar ›Einsamkeit und Freiheit‹ – so der Titel des Vortrags – müsse ein Drittes gedacht werden: die Geselligkeit. Tage später las ich sein erstes Interview als neuer Präsident des Instituts für Auslandsbeziehungen: Hier variierte er die beiden Begriffe zu »Kultur und Freiheit« – und kein Wort von wilden Ameisen, die nach Zitrone schmecken.

Ich habe viel gelernt. Danke. [Verbunden mit dem Wunsch diesen eindrücklichen Wahlspruch des damaligen CSU-Kandidaten für die Münchener Kommunalwahlen von 2014, Josef Schmid, dem schlummernden Vergessen zu entreißen – damals kontrastiert von dem nicht minder faszinierenden ›Damit München München bleibt‹ des SPD-Kandidaten, was sich, nebenbei gesagt, wohl in der MVG-Kampagne ›Weil's einfach einfach besser ist!‹ fortsetzen konnte (was wiederum wohl erst nach dem Verschwinden des Mobilfunkanbieters simyo und dessen Claims ›Weil einfach einfach einfach ist‹ zulässig geworden war) –;] mit dieser Handreichung an der Hand folgt hier nun eine lose Auflistung von mir bis dato unbekannten Begriffen, die ich vom Historikertag mitnehme (wie die wilden Ameisen, die nach Zitrone schmecken!): (1.) die »Färsenvornutzung« (eine Praxis aus der Mast weiblicher Rinder, siehe Podcast-Link oben), (2.) die »Identitätscontainer« (Forschungsansatz für das 19. Jhd.), (3.) die »Erregungsdemokratie« (für die Gegenwart, siehe weiter oben). (4.) Bonus: »Unserdeutsch« (eine sogenannte Kreolsprache, gesehen und gehört in der Ausstellung ›Aus Westfalen in die Südsee‹).

Und wieso der Paradiesvogel ›Paradiesvogel‹ heißt? Da präparierte Exemplare der Vögel als sogenannte Bälge aus Ozeanien ohne Füße, sozusagen ›entbeint‹, nach Europa geschickt wurden, entsponn sich hier der Mythos, dass diese Vögel nie ruhten, immer nur fliegen und immer höher und damit näher ans Paradies. Wohl wollen sie nur nicht in die europäischen Taxonomien bestückt werden!

Die rote ›Historikertags‹-Tasche und ihr Inhalt: Wie gesagt, es gab zwar eine App, aber was den Besucher(inne)n bei der Anmeldung ausgehändigt wurde konnte nur als Manifest der Dinglichkeit verstanden werden – im Sinne eines ›Druckerzeugnisse sind besser!‹ –, dermaßen zog es zentnerschwer am Arm, die Flut an Werbebroschüren, zumeist Verlagsprogramme, in der roten Stofftasche. Am Freitagnachmittag, nach der Flut, bei Ebbe zeigte sich dann, das viel davon in den Nischen des Fürstenberghauses zurückgelassen worden war. Noch nachts in einem Büchertauschregal in der Innenstadt flogen mir die Prospekte entgegen. Ja, ich habe sie alle durchgesehen: von den großen Namen wie C.H.Beck zu kleineren Häusern wie Kröner oder Waxmann. Wie viele Titel da in diesem Jahr verlegt wurden! Was ein weites Feld die Geschichtswissenschaften in all ihren Sub- und Nachbardisziplinen! Ob nun der Gang durch die beiden weißen, freudlosen Zelte mit den Verlagsständen – aber in einem duftete es immerhin nach Kaffee! – oder das Blättern in den Broschüren gewinnbringender war? Beides, ja, beides bot Anlass zu Überlegungen über die Gestaltung von Buchcovern:
(1.) Bestechend ist da gleich einmal das faszinierend-ungesunde Türkisblau, das die Cover der von Norbert Frei herausgegebenen Reihe ›Die Deutschen und der Nationalsozialismus‹ grundiert. Ein starkes Stilmittel! Hoher Wiedererkennungswert! Wie ein nicht zu stoppender Ausfluss aus dem I.G.-Farben-Prozess, den immer wieder nachsickernden Unvorstellbarkeiten. Diese Farbe sollte unbedingt auch auf dem Cover des nächsten Buches – das dann Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 und Direkt danach und kurz davor zur Trilogie erweitert – von Frank Witzel auftauchen. Wenn auch nicht im Farbton, so doch in der Eindrücklichkeit erinnert dieses Türkisblau an die Praxis, die Fingerkuppen von Wähler/inne/n in bestimmten Staaten mit Tinte zu markieren. Einen gewissen Wiedererkennungswert besitzen natürlich auch die Cover der Reihen ›C.H.Beck Wissen‹ und ›Historische Einführungen‹ (Campus Verlag; wobei ich immer einen Bindestrich zwischen Name und ›Verlag‹ setzen möchte).
(2.) Die angesagtesten Titel indes hat wohl Mohr Siebeck im Programm mit Schreiben im Forschen. Verfahren, Szenen, Effekte (2018), Wahrheit zurichten (2018) und Epistemische Tugenden (vsl. Januar 2019). Letzteres ziert eine tolle Fotografie des »klugen Hans« in einem Berliner Hinterhof um 1907. Unter diesem Namen wurde ein Pferd bekannt, das vermeintlich Rechenaufgaben lösen konnte, letztlich jedoch dem sogenannten ›Kluger-Hans-Effekt‹ in der Verhaltensforschung den Namen gab. Im Ersten Weltkrieg wurde der ›kluge Hans‹ eingezogen und starb 1916 »unter ungeklärten Umständen« (im weiten Feld). [Hans Joachim Gross, Die Geschichte vom klugen Pferd Hans, in: Biologie in unserer Zeit Vol. 44 Heft 4, 2014, S. 268-272, hier 269f.]
(3.) Und was haben andere Verlage so im Programm? Im Schwabe Verlag erscheint im Oktober 2018 die Aktenedition über den Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent 1782 (»Ca. sFr. 68.–«; wobei ich mir den Prospekt des Schwabe Verlags direkt am Stand geholt habe, der war nicht in der Tasche). Weniger zumutbar scheint ein in diesem Jahr im Aschendorff Verlag erscheinendes Buch mit dem ausufernden Titel Wieder nichts Neues über Hitler aber alles, was man über ihn weiß (und wert ist, gewusst zu werden,) auf 248 Seiten von Volker Hentschel, der im ersten Halbsatz vielleicht noch an dürftige Comedy erinnern mag, mit den weiteren Einschüben – ich gestehe, dass ich stilistisch auch nicht frei von solchen bin – aber zunehmend dazu führt, dass ich mich an der Methodik aus dem Band Biographien aus der Reihe ›Historische Einführungen‹ festzuhalten suche. Noch schwieriger wird es dann in der Verlagsankündigung, einem stolpernden Text, der schwankt zwischen Groteske und Umständlichkeiten: »Adolf Hitler ist wegen eines bedauerlichen Mangels an verlässlichen Lebenszeugnissen biographisch nur unzureichend zugänglich. Dennoch erscheinen wieder und wieder dicke Bücher, die als Lebensgeschichten Hitlers etikettiert sind. Ihre Verfasser setzen sich über die relative Geringfügigkeit und absolute Abgedroschenheit des über Hitler Bekannten durch zweierlei hinweg: zum einen dadurch, dass sie weniger Hitlers Leben, als die Bedingungen und Konsequenzen seines politischen Werdens und Seins beschreiben, und zum andern dadurch, dass sie Hitlers Persönlichkeit unter dem Anschein von ›Originalität‹ neu zu deuten vorgeben – beides mit einem verbalen Aufwand, der das Rezeptionsvermögen der Leser übermäßig strapaziert. Die bedenkliche Folge davon ist, dass die Zunahme an Hitler-Biographen das Wissen über Hitler nicht nur nicht erweitert, sondern zusehends verflüssigt und Hitler als eher fiktionale denn reale Figur erscheinen lässt.« Spätestens an dieser Stelle würde ich entschieden Einspruch anmelden und stattdessen – aus der Vielzahl an erwähnenswerten Hitler-Biographien – auf Thomas Sandkühlers Adolf H. Lebensweg eines Diktators von 2015 verweisen, das mir geeignet scheint, um denen im Text undeutlich vorgebrachten Vorhaltungen zu begegnen. Es mag zwar nicht zulässig sein, ein Buch zu kritisieren ohne es gelesen zu haben, doch bietet hier vielleicht schon die unglückliche Verlagsankündigung gebührenden Anlass dazu.
(4.) Was noch? Beim Blick auf die ›Krieg in der Geschichte‹-Reihe bei Schöningh fällt mir auf, dass deren legendäres Akronym ›KRiG‹ wohl leider nicht mehr in Verwendung ist. Unter den Neuerscheinungen im Franz Steiner Verlag – lange alles andere als ein Garant für die ansprechende Gestaltung von Einbänden (Nachtrag: Hier habe ich den Franz Steiner Verlag mit dem Verlag Peter Lang verwechselt, pardon. War es doch zumeist die lieblose Umschlaggestaltung der Veröffentlichungen des letzteren, die mir, gerade wenn ich an hier in den 1990er Jahren publizierte Dissertationen denke, im Gedächtnis geblieben ist.) – sticht der Sammelband Völkermühle Europas. Migrationen an Rhein und Mosel, hg. von Michael Matheus, heraus. Nicht nur wegen des Themas sondern auch wegen des irgendwie schönen Gemäldeausschnitts auf dem Cover, eine Miniatur, fragil auf splittriges Holz gemalt. [19] Im Verlag C.H.Beck liefern sich derweil im 144 Seiten starken ›Gesamtverzeichnis 2019‹ der Sektionen ›Literatur, Sachbuch, Wissenschaft‹ zwei Schwergewichte zum gleichen Preis von 98 Euro ein Duell auf gegenüberliegenden Seiten: Die »4 Bände in Kassette« der Geschichte des Westens (»rd. 4.600 S.«) von Heinrich August Winkler und die »Broschierte Sonderausgabe« von Hans-Ulrich Wehlers Deutscher Gesellschaftsgeschichte (»Rund 4.900 Seiten«). »Auf diesen Fels werde ich…«
(5.) Nicht zu vergessen ist, dass die rote Stofftasche neben den Broschüren auch einen Gutschein für ein Gratisexemplar von Hinnerk Bruhns Max Weber und der Erste Weltkrieg (2017 bei Mohr Siebeck) enthielt! Außerdem ein Gratisexemplar der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift für Ideengeschichte. Deren Titelthema ›ICH‹ ließe sich vielleicht zu den ›Gespaltenen Gesellschaften‹ in Beziehung setzen. Wäre ›ICH‹ ein Kontrapunkt gegen oder ein Archipel im Feld ›Gespaltene Gesellschaften‹?

Als beste Dissertation ausgezeichnet mit dem Hedwig-Hintze-Preis wurde Katharina Kreuder-Sonnen für ihre Arbeit mit dem Titel Wie man Mikroben auf Reisen schickt (2018 bei Mohr Siebeck). Dank Leseprobe lese ich die Einleitung und sehe direkt die mögliche dritte Staffel von Charité vor mir (nur besser! d. h. suggestiver Einstieg, aber dann natürlich fundiert abgesichert).

Unter welcher Bezeichnung wird der nächste Historikertag – 2020 in München – stattfinden? Wird er wieder als ›Historikertag‹ firmieren? (›Historikertag‹ sozusagen als Quellenbegriff?) Oder wird es eine Namensänderung geben? Wird er vielleicht der Selbstbezeichnung des Veranstalters nach zum ›Historiker- und Historikerinnentag‹ werden? (Wobei weitere Varianten denkbar wären wie ›HistorikerInnentag‹, ›Historiker_innentag‹, ›Historiker*innentag‹, ›Historikerinnentag‹, ...) Wird er irgendwie hashtagmäßig abgekürzt zum ›Histotag‹ o. ä.? (Wobei hier wie im diesjährigen offiziellen Hashtag ›#HisTag18‹ – bzw. ›#Histag18‹, ›#histag18‹ – auch, das ›his‹ problematisch verstärkt scheint.)

Eine andere Variante: Was würde es bedeuten, wenn der ›Historikertag‹ mit veränderter, etwa verstärkt schulischer und studentischer Ausrichtung als ›Geschichtstage‹ neu gedacht werden würde? Oder würde das eher in die Domäne der Bundeszentrale für politische Bildung oder von betreffenden Stiftungen wie der Körber Stiftung fallen? Nicht dass die ›VideoDays‹ als ›VideoDays der Geschichtswissenschaften‹ neu erfunden werden sollen, aber könnte nicht auch der Historikertag von jüngeren Formaten wie jenen im europäischen »Geschichtsnetzwerk« ›EUSTORY‹ anscheinend erprobten lernen (auch wenn ich nicht weiß wie diese aussehen)?

Am letzten Tag werden die roten ›Historikertags‹-T-Shirts für 2 Euro das Stück verkauft.

[NB: Für trotz sorgfältiger Mitschrift möglicherweise fehlerhafte Zitate und Wiedergaben vom ›Historikertag 2018‹ bin natürlich allein ich verantwortlich. Auch mag die Grenze zwischen Notiertem und meinen Überlegungen dazu mitunter unscharf sein.]

2018 September 20
theorie
ethnofuturismen
avanessian
kritik

Ethno*futurismen

Armen Avanessian / Mahan Moalemi (Hg.),
Ethnofuturismen. Aus dem Englischen von Ronald Voullié.
Merve Verlag. Leipzig 2018.


Armen Avanessian hat ein neues Buch. Es heißt Ethnofuturismen. Er hat es am 13. September im Roten Salon der Volksbühne vorgestellt. (Ich war da.) Der andere Herausgeber des Buches, Mahan Moalemi, war nicht da. Weil er kein Visum bekommen hat, sagt Avanessian. Deswegen hat Avanessian den Vortrag, den Moalemi halten wollte, dann selbst vorgetragen.

Demnach geht es in Ethnofuturismen um die Dimension des »Chronopolitischen«. Diese zeichnet sich aus durch eine Ungleichverteilung der Zukunft. Ethnofuturismen können diesem Ungleichgewicht entgegenwirken. Die (Wieder-)Entdeckung von Zukünften als Ethnofuturismen sei in ihrer ›chronopolitischen‹ Wirkung vergleichbar mit der ulterioren Beförderung eines sich quer durch die »Chronosphäre« fortsetzenden »Butterfly-Effekts«. Ein solcher Effekt sei zu verstehen als eine fortwachsende Abweichung, sich »exponentiell« steigernde »Divergenz«. Auch der lineare Zeitstrahl müsse »sideways« ausgedehnt, in die Räume entlang der »timelines« verzerrt und erweitert werden. Dahinter stünden »Verschiebungen des Zeitbewusstseins«, Mobilitäts- und Vertreibungserfahrungen des ›Globalen Südens‹ und der Versuch in der »Sackgasse« der »identity politics« auszuparken. (Das sind die notierten Stichwörter, aber angereichert; auch denke ich über die Emergenz von Bedeutung nach.) Schon im Juli – im Deutschlandfunk – hatte Avanessian von ›Zeit‹ und ›Zukunft‹ als »chronopolitische[m] Terrain« gesprochen und das emanzipatorische Potenzial peripherer Zukünfte beschworen sowie sich von den essenzialistischen Annahmen eines neurechten ›Ethnopluralismus‹ abgegrenzt.

Das Buch Ethnofuturismen ist im Merve Verlag in der Reihe ›SPEKULATIONEN‹ erschienen. An dem Abend in der Volksbühne kostete es 10 Euro, regulär kostet es 15 Euro. Auf Amazon sind »Nur noch 19 auf Lager (mehr ist unterwegs).« Nach der Einleitung (Armen Avanessian und Mahan Moalemi, Ethnofuturismen: Befunde zu gemeinsamen und gegensätzlichen Zukünften, in: dies. (Hg.), Ethnofuturismen. Leipzig 2018, S. 7-39; siehe academia.edu und engl. Version auf Google Drive) der Herausgeber Avanessian / Moalemi, versammelt die »Anthologie« sieben Beiträge. Diese zeigen drei Perspektiven von Ethnofuturismen auf: »Afrofuturismus«, »Sinofuturismus«, »Golf-Futurismus«.

Die Beiträge sind gewohnt nachlässig lektoriert, mit Fehlern im Satz(bau) und einer Übersetzung, der noch das englische Original anhaftet. Im Beitrag von Anna Greenspan wiederholen sich die Seiten 129 bis 144 zweimal, was als Schwellfingerzeig auf gestanzte Redundanzen, glitches und Iterationen hin gedeutet werden mag: In Andeutung subversiver Akkretion stottert sich der Papierstau des teiltriplizierten Beitrags über die Schanghaier Weltausstellung 2010 zum blattstärksten des Bändchens. (Und hinten, auf dem Buchrücken, grüßt die Buchnummer ›451‹ als Signatur sich potentiell selbstentflammender Bücher, beschleunigt im reflektiert-gebündelten Sonnenstrahl gewölbter Office-Fassaden in Pudong-MITte.) [4]

Sinofuturismus
Greenspans Beitrag beschreibt Schanghais Suche nach »einer grundlegend anderen Zukunft, die nicht relativ, sondern real und absolut ist« (Anna Greenspan, Shanghai Future. Remake der Moderne. Die Zukunft hat kein Datum, in: Avanessian / Moalemi, Ethnofuturismen, 155-148, hier 126), was an Quentin Meillassouxs Ausbruchsversuch aus dem korrelationistischen Zirkel erinnert. Dabei versuche die Stadt an die eigene ›arretierte‹ Moderne der 1920er und 1930er Jahre anzuschließen, während derer die Metropole als »Schauplatz globaler Modernität« (139) erfahren wurde. Aus der maoistischen »Schockstarre« (141) wurde Schanghai erst 1992 ›gerelauncht‹. Lange Zeit in ausgesetzter Zeit (und Witterung) arretiert verfallend ›im Off‹, blieb es so vielleicht unbetroffen von den zwischenzeitlich kollabierten Futurismen divergierend-westlicher Regionen, deren – so eine Zeitrechnung – Planungshyperbeln 1962 abbrachen im Gelächter der Zeichentrickserie Die Jetsons und ihres »subversive[n] Humor[s]« (134). (Was war dann Nixon in China 1972 und 1987?)

Der andere den Sinofuturismus explorierende Beitrag des Bandes, verfasst »1997 oder 1998« (Steve Goodman, Fei Ch'ien versickert: Sinofuturistische Geheim-Währung, in: Avanessian / Moalemi, Ethnofuturismen, 87-114, hier 87) – also zeitgleich mit den beiden Nixon in China-Sequels Tomorrow Never Dies (1997) und Rush Hour (1998) –, »kartographiert die dunkle Seite des tumultuösen Aufschwungs in Ostasien« (89). So wie diese blendet das »Cut-Up-Experiment« (87) schlaglichtartig ›Triaden‹, ›Opiumkriege‹, ›Geldströme‹ und ›Cyberspace‹ auf und blättert so eine ›Retro-Futur‹-Stimmung vis-à-vis der 90er hin. Cineastisch ließ sich diese Leichtigkeit, die neuen Horizonte des 90er-Jahre-Kinos (sofern ich das ex post überblicke) – sei es die Wiederentdeckung Berlins in Lola rennt (1998), der späteren ›Osterweiterung‹ (die Filme Emir Kusturicas, oder auch – in unterschiedlicher Perspektive – Im Juli (1998), No Man's Land (2001) und andere mehr), sowie natürlich die Entdeckung der Möglichkeiten des Internets in Matrix (1999) – vielleicht ein Stück weit wiedererleben in dem Film An Elephant Sitting Still (大象席地而坐), der in diesem Jahr auf der Berlinale Premiere feierte. Dort sah ich ihn am 22. Februar im tunnelgleich langgezogenen Kinosaal des Delphi Filmpalasts am Zoo. Die Reihen waren gut besetzt, es lag eine Stimmung von Erleben über dem Publikum, wenn auch nicht alle Anwesenden die vier Stunden bis zum erlösenden Fanfarenstoß des Elephanten aus dem Off aussaßen, der die verbliebenen mit einem melancholischen Lächeln entließ. Das Langfilmdebüt des jungen chinesischen Autors Hu Bo bewegt sich durch die Geschehnisse eines Alltags in einer namenlosen-mittelgroßen Stadt Nordchinas. Die Bilder, die Farben, die Wege der Bilder über die Gesichter und Fassaden sind betörend in ihrer Nähe, in ihrer hermetischen Unberührtheit – wie von Christian Kracht gemacht –, der Himmel impassibile in seinem bedeckten Strahlen (Überbelichten) auf die sich sukzedierenden Vorkommnisse, so dass es ein »Leben als Einöde« bleiben mag, wie Yun-hua Chen dem Film im Berlinaleblog des Goethe-Instituts gleichsam einen Untertitel zufügte. Ungeachtet ungelenker Dialoge, war doch das Filmschaffen erkennbar, zu bewundern, beim Werden sozusagen dokumentarisch erlebbar. Die titelgebende Allegorie des stillsitzenden Elefanten – der sich nicht bewegt, der sich weigert, sich zu bewegen – kann vielleicht als Gegenmoment zu den Erwartungen und Vorhaltungen von ›Strebsamkeit‹ und dem von internationalen Medien leichtfertig als ›großer Sprung nach vorne‹ apostrophierten (vgl. 140) chinesischen Wirtschaftsaufschwung gesehen werden (siehe auch ›Sprung‹ der ›Tigerstaaten‹) – in einer ähnlichen Weise wie der junge Alberto Moravia dem italienischen Faschismus mit Gli Indifferenti (1929) eine brisante Gleichgültigkeit entgegenhielt. Die Filmkritikerin Chen zitiert aus Hu Bos erstem Buch 大裂 (»Risse«), das 2014 unter seinem Pseudonym Hu Qian erschienen war, indes die noch produktive Überzeugung der Mittelbarkeit der eigenen bitteren Erfahrung: »Ich dachte darüber nach, warum ich dort war und in der Einöde nach Wegen suchte, die ich einschlagen kann. Und ich bin überzeugt, dass es mehr ist als nur die Enttäuschung über die Gegenwart.«

Einschub: ›Chinoiserien‹
›Sinofuturismus‹ sei nicht zuletzt ein Stil der Diaspora (vgl. 100). Er bedient sich frei-künstlerisch vagierender Vorhaltungen von ›Nachahmung‹, ›mangelndem Ingenium‹, ›Enthumanisiertheit‹ wie ›KI-Begeisterung‹, von ›befremdender Roboterhaftigkeit‹ – im Ergebnis vielleicht nicht unähnlich der digitalen Subkultur des ›Vaporwave‹ von vor wenigen Jahren (eine Parallele, die sich dann vor allem auch in Zusammenhang mit der Ästhetik des ›Golf-Futurismus‹ ziehen lässt). Ein nicht unproblematisches Manko der Anthologie mag indes sein, dass im ›Sinofuturismus‹-Kapitel mit Greenspan und Goodman keine Stimmen der Diaspora vertreten sind, sondern bestenfalls Korrespondenten und Adepten. Die ›Chinoiserien‹ des Hyperdub-Gründers Goodman sind wohl nur ein Stück weit informierter und vernetzter als Leibniz'sche. Wie schreibt Ma Keyao, Geschichtsprofessor an der Universität Beijing, in einem Beitrag über das Problem des geschichtstheoretisch vorgefertigten eurozentrischen Blicks? »Bis heute fehlt uns ein eigener Ausgangspunkt, eine Geschichtstheorie, die von der eigenen Geschichte ausgeht. Es fehlt uns eine Weise, aus der eigenen Perspektive die Welt zu betrachten, eine sich darauf gründende Theorie der Weltgeschichte, ein Entwicklungsmodell der Weltgeschichte.« Solange dies nicht möglich sei, »beschränken wir uns auf die Gegenwart.« [Ma Keyao, Die Überwindung des ›Eurozentrismus‹ (2006), in: Fritz Stern und Jürgen Osterhammel (Hg.), Moderne Historiker. Klassische Texte von Voltaire bis zur Gegenwart. München 2011, S. 501-506, hier S. 504 u. 505.]

Auch die synkretistisch-glatten Bilderwelten des 情報デスクVIRTUAL-›Vaporwave‹ boten eine Sehnsucht, ein Verlangen. So war die Gegenwart dabei nicht bloß ›Bildschirmschoner‹ sondern immer auch dessen Einbrennen (screen burn-in), glitches, Störungen; folglich: eine Spur, ein blinder Fleck, die Abweichung in der Iteration. Wie auch zeitgleich mit ›Vaporwave‹ das ›Trap‹-Genre populär wurde, es zwischen beiden nicht nur visuelle Übereinstimmungen gab.

Die überformende Konstatierung eines ›China-Momentums‹ ist ein Topos, der sich so fest eingebrannt hat, dass seine Ablösung durch dekonstruierende Historisierung eigentlich unmittelbar anstehen müsste – vielleicht in der Form, in der Albrecht Koschorke 2015 in Hegel und wir die Erzählangebote von Hegels Preußen und der Europäischen Union heutzutage verglichen hat. (Es ist bestimmt schon geschehen, ich habe es nur noch nicht vernommen. Was ich zuletzt kursorisch hinsichtlich ›China‹ und ›(Zeit-)Erwartungen‹ notiert habe, ist disparat Folgendes:)

In einer Rezension zu Bernd Roecks dickbändigem Renaissance-Kompendium Der Morgen der Welt (2017) fand es der Rezensent abschließend »[u]ngemein spannend« das Gelesene »in die Gegenwart zu übertragen« entlang der Frage: »Wo werden sich welche Voraussetzungen geändert haben, sollte China demnächst Europa in einer asiatischen Renaissance ökonomisch und technisch wieder überholen?« Die Frage blieb ohne Antwort, sie schwang nach, vielleicht auch in ihren latent kulturpessimistischen Andeutungen. Können nicht auch – den Gedanken fortführend – aus Annahmen und Vorhaltungen sich verfestigende Ressentiments zu den von Avanessian und Moalemi kritisierten »Präemptionsphänomenen« (16) gezählt werden? Die zwei Herausgeber führen in der Einleitung indes nur »präemptiv[e] Versicherungen, derivatives Finanzkapital und Empfehlungsalgorithmen« (16) als Beispiele für Mechanismen an, die die Zukunft belegen und so dem gestalterischen Gegenentwurf verwehren würden.

Zusätzlich scheint in der Suggestivfrage das Verständnis eines Duells auf der Piste eines linearen Fortschritts auf: Da klinkt sich stupiderweise der Gedanke an röhrende Zweirad-Kessel (›in seinem Lauf...‹) und den running gag ›Eckart, die Russen kommen!‹ aus Werner ein, ein Untergangsahnungsmotiv, das bei Louis-Ferdinand Céline stets ›chinesisch‹ substituiert rekurrierte, etwa in Norden vor dem Hintergrund des in märkischem Kleinstadt-Sand peripher-rural erfahrenen großen Zusammenbruchs im Zweiten Weltkrieg: »[W]enn die Mansardparks nicht mehr gepflegt werden, besonders in Brandenburg, kann man sagen, es ist aus, das ›Grand Siècle‹ ist untergegangen, bleibt nur noch, auf die Chinesen zu warten« [Louis-Ferdinand Céline, Norden. Reinbek 2. Auflage 2007, S. 262]. Die Ankunft Chinas als ›Ende der Geschichte‹ ist bei Céline wohl auch der Versuch von den eigenen innereuropäischen Verstrickungen abzulenken und einen neuen, quasi exterritorialen ›Feind‹ zu schaffen, der als deus ex machina Absolution bedeute, in der Weise wie wohl tatsächlich vielleicht der ›Kommunismus‹ Célines ›eigene Frage als Gestalt‹ blieb. Ob das Motiv eher der Zeitumstände der Niederschrift des Buches geschuldet ist – 1959, vgl. Norden S. 16 –, wäre wohl zu Erörtern (auch wenn es im Romankontext anders dargestellt wird, vgl. S. 262). Die phantastisierte Heraufkunft ›der Chinesen‹ wird bei Céline von symbolistischen Bildern eingerahmt: Der ›Mansardpark‹ könnte plakativ George zugeeignet werden, wohingegen der Gedanke »die Uhren können sich nicht von selbst aufziehen« an Rilkes ›Gott im Mittelalter‹-Gedicht denken lässt. Ein ›Aushängen‹ der Zeit, des ›Schlagwerks‹ wird bei Céline indes nicht nahegelegt, eher ist es eine Übergabe: das Warten darauf, dass ›die Chinesen‹ ›die Uhren‹ wieder aufziehen, das Weltgeschehen takten.

So konnten in einem gegen China gerichteten Antikommunismus xenophobe Töne mitschwingen; etwa wenn ein britischer Südostasienwissenschaftler 1967 betonte, dass das amerikanische Engagement im Vietnamkrieg nicht zuletzt der »fear of Chinese Communist expansion« geschuldet sei, denn »Russia, after all, can be accommodated«, aber China schien fremd, gefährlich und unbekannt. [J. L. S. Girling, Vietnam and the domino theory, in: Australian Outlook, Vol. 21 No. 1 (1967), S. 61-70, hier S. 69. Kursivierung im Original.]

In Alfred Webers ebenfalls zu historisierender Konzeption einer »Geistesgeschichte im kulturvergleichenden Maßstab« [Anne-M. Wallrath-Janssen, Der Verlag H. Goverts im Dritten Reich. München 2007, S. 391], seinem 1943 erschienenen Das Tragische und die Geschichte [Alfred Weber, Das Tragische und die Geschichte. Hamburg 1943, nacheinander S. 124, 97, 119, 119, 124], funktionalisierte Weber das achsenzeitliche China als »antitragische[n] Gegenpol« zur griechischen Antike. China als »das antitragische Land«, das charakterisiert wird als »harmonistisch« – was an den Euphemismus ›harmonisieren‹ für ›zensieren‹ denken lässt –, als bestimmt durch ein »chthonisch gefühlte[s] Gleichgewicht des Daseins«, wenn auch – mit Blick auf die Gegenwart – jüngst »aus diesem idyllischen Ideal furchtbar hinausgeschleudert«. Die anhaltend vormoderne Darstellung Chinas im konfuzianischen Ideal eines Strebens nach Ausgleich, nach Harmonie – subliminal kontrapunktiert vom amerikanischen pursuit of happiness – ist auch ein oft bemühtes Motiv, das überdies gern als Kontrastfolie zum ›neuen Auftreten‹ des Landes verwendet wird, wenn etwa langjährige Chinakorrespondenten zu bemerken meinen, dass sich »[d]ie Chinesen [...] neuerdings schon mal arrogant« benähmen. Aus der ›Erdverbundenheit‹ (von ›chthonisch‹) sind in der heutigen Darstellung sozusagen ›seltene Erden‹ geworden: die Bedingungen ihrer Förderung, ihrer Foxconn-Verarbeitung sowie der Vorwurf der ›Abwesenheit‹ dieser Material- und Produktionsgeschichte im Endprodukt; ein Vorwurf, der womöglich latent als nostalgisches oder gar reaktionäres europäisches Ressentiment gesehen werden könnte, wo seinerseits – vielleicht zunehmend – mit der »Ausbeutung« der Ressource ›Vergangenheit‹ Gewinn gemacht wird, durch die ›Anreicherung‹ des Produkts um eine Geschichte [Luc Boltanski und Arnaud Esquerre, Bereicherung. Eine Kritik der Ware. Berlin 2018, S. 16], durch eine ›geschützte‹ und auf eine postulierte Tradition verweisende Herkunftsbezeichnung.

George Steiner, kürzlich nach seiner »Diagnose der Zukunft unserer Zivilisation« gefragt, antwortete: »Ich glaube, wie ich schon sagte, dass Europa sehr müde ist. Ich glaube nicht an das chinesische Wunder, aber ich könnte mich irren. Ich glaube an das indische Wunder, an eine phantastische schöpferische Sensibilität, an eine extreme Erfindungskraft und Originalität.« [George Steiner, Ein langer Samstag. Ein Gespräch mit Laure Adler. Hamburg 2016, S. 136.] Womit er ja im Umkehrschluss diese Fähigkeiten China abzusprechen schien. Tatsächlich sprach er weiter: »Die Chinesen lernen mit einer phantastischen Energie, einer Disziplin, die einem den Atem verschlägt, aber sie wagen weder Kritik noch erfinderische Phantasie. Sind indische Studenten um einen Tisch versammelt, hört man aus jeder Stimme den Mut heraus, Neues vorzuschlagen, Vermutungen anzustellen, vor allem aber den Mut, jeglicher Autorität zu widersprechen. Daher mein Eindruck, dass wesentliche Kapitel in der Geschichte des Denkens und der Kunst zukünftig aus Indien kommen werden.«

Kerry Brown, Professor für Chinesische Studien am Londoner King's College, stellt einem ›nostalgischen‹ ›Westen‹ ein ›dynamisches‹ China gegenüber: »[W]e can see a major schism between those powers dominated by nostalgia, and a longing to return to the certainties and good condition of the past, and those who are looking forward to a future which will be better precisely because it will not be like the past. [...] China for the first time in the modern era is able to say it is a middle-income country with a global status, creating a form of modernity on its own terms for itself«. »China [...] has won the battle of modernity.« Was das Zeitempfinden dann noch einmal weiter suggestiv transponiert ist sein Vergleich der laufenden Vorbereitungen für die großen Feierlichkeiten zum hundertjährigen Bestehen der KP in China im Jahr 2021 mit der so allgegenwärtig wie unkonkret bleibenden ›Parallelaktion‹ in Musils Mann ohne Eigenschaften: »The Party will put on a performance of unity and success the like of which it, and the world outside, has never seen. It will make Musil’s “Parallel Campaign” look tame.« (Gerade gesehen: Kafkas China. Forschungen der Deutschen Kafka-Gesellschaft, Band 5 (2017) sollte ich mir auch ansehen.)

Diesen ›Chinoiserien‹ – gemeint als ›Chinabilder‹, als ›China-Imaginationen‹, als Vorurteile, Vorhaltungen und Verzerrungen, überformende Zuschreibungen, Erwartungsimpeti – entgegen, wäre nun (wieder) an die Spielarten eines ›Sinofuturismus‹ anzuknüpfen. Wo aber beginnen? Ein Ansatzpunkt, mehr noch: ein Brennpunkt, könnte Hongkong sein: »Hong Kong is more interesting than ever« hieß es während einer Podiumsdiskussion am 9. September im Haus der Berliner Festspiele im Anschluss an die Vorführung des Dokumentarfilms Raise the Umbrellas des chinesischen Regisseurs Evans Chan. Sein stellenweise nostalgischer Rückblick auf die Occupy-Proteste der zweiten Jahreshälfte 2014 zeigte auch Radikalisierungstendenzen in einzelnen, meist jugendlichen Fraktionen der heterogenen Protestbewegung, etwa die radikalen, ›lokalistischen‹ Zukunftsentwürfe der 2015 gegründeten ›Hong Kong Indigenous‹-Bewegung. Ein flüchtiger Exponent derselben habe vor kurzem in Berlin einen Asylantrag gestellt, hieß es während der Veranstaltung.

Afrofuturismus
Von Sun Ra zum ›Blaccelerationism‹ – Den ersten in Ethnofuturismen abgedruckten Beitrag schrieb Kodwo Eshun 2003. Er greift darin u. a. die These einer Deutung des »kollektive[n] Traumas« der Erfahrung von Vertreibung, Sklavenhandel und Sklaverei als »Gründungsmoment der Moderne« auf: »[D]ie afrikanischen Subjekte, die die Erfahrung der Gefangennahme, der Beraubung, der Verschleppung, der Verstümmelung und der Sklaverei gemacht haben, [waren] die ersten Modernen« (Kodwo Eshun, Weiterführende Überlegungen zum Afrofuturismus, in: Avanessian / Moalemi, Ethnofuturismen, 41-65, hier 42). Der entstehende Kapitalismus ist folgerichtig als »Rassenkapitalismus« (77) zu kennzeichnen. Aria Dean schraubt diese Befunde in ihrem Beitrag eine Umdrehung weiter, indem sie die Verknüpfung zur Strömung des ›Akzelerationismus‹ herstellt – als »Blackzeleration« (Aria Dean, Anmerkungen zur Blackzeleration, in: Avanessian / Moalemi, Ethnofuturismen, 67-85) – und diesbezüglich die Frage nach der ›Sprengkraft‹ des ›Erfahrungsvorsprungs‹ der Figur des ›Sklaven‹ aufwirft. In abgeschwächter Form finden sich solche Überlegungen vielleicht auch in dem von Avanessian und Moalemi in der Einleitung angeführten Konzept des »Afropolitanismus« (18), das von Achille Mbembe als »Bewusstwerdung ›der Präsenz des Anderswo im Hier und vice versa‹« beschrieben worden sei. Die Einschätzung der Herausgeber dazu: »Wir verstehen das als verräumlichten Begleiter des afrofuturistischen Bewusstseins, das die Anziehungskraft anderer Zeiten – der Vergangenheit und der Zukunft – in der Gegenwart registriert.« (18)

Science-Fiction sei im Idealfall als »signifikante Verzerrung der Gegenwart« (46) zu verstehen, zitiert Eshun Samuel R. Delany in seinem Beitrag. Solche Zukunftsentwürfe und erweiterten Realitäten waren im Sommer in der Ausstellung ›African Mobilities. This Is Not A Refugee Camp Exhibition‹ in der Münchner Pinakothek der Moderne zu sehen, etwa in der Dystopie-Immersion ›Akurakuda‹ als Video-Simulation und als Graphic Novel, auf Folien abgezogen und über einem Leuchtkasten ausgebreitet. Die Geschichte stammt von Wale Lawal, die Bilder von Olalekan Jeyifous. Die Stimmung erinnert an ›GTA Lagos‹, die Szenerie ist die fiktive, als Insel entworfene ›Mad Horse City‹. Auf okayafrica.com sind die von Lawal für diese Stadt entworfenen Episoden zusammengefasst: »Lawal describes Offline, the first of the three narratives, as a journey to escape the ubiquity of the internet that leads a woman to visit an illegal botanical garden where people pay to disconnect. In Òmìníra, the second of the three moments, two scavengers from a fishing community inspired by Makoko test the boundaries they've been given in their starkly unequal society. In Dreamscape, a proxy bypass enables a young man to illegally download and experience the dreams of people based in other jurisdictions.« Tatsächlich beschäftigten sich eine Reihe von Beiträgen mit Inseln und ›Island Crossings‹. So auch Aissata Baldes ›The Territory in Between‹ als Entwurf eines insularen »Fantasieort[s]« zweiundzwanzigeinhalb Kilometer vor den Kapverden gelegen, bestückt mit Krematorium, Badehaus, Fischfarm und Entsalzungsboje: »This project explores the interplay between physical and imagined spaces in ways that allow us to rethink our understandings of state, boundary and space. Migrants’ journeys are commonly portrayed as a linear progression from home to host nation. In reality, their movements are full of interruptions, discontinuities, periods of waiting, displacement, limbo and escape. Through drawings, I probe these fluid notions of territory, exploring the in-between spaces that contradict the two conventional underpinnings of territory: “site” and “state”. Whilst “state” often refers to an organised political community under one government, it also denotes one’s condition at any given time. My architecture considers the relationship between the formation, contestation and contradictions of territories, the production and maintenance of edges and borders. It is a pit stop, a way station for migrants on their journey from home to destination unknown. It questions laws of entry and exit; it manipulates the rules of a conventional harbour or airport, traditional sites of arrival and departure. It includes a crematorium, a bathhouse, a fish farm and a desalination buoy. Only the smoke from the crematorium is visible from the mainland of Cape Verde, itself the physical site of diaspora.«

Golf-Futurismus
[In Avanessians Moalemi-Vortrag war – das lag nahe – auch ein Track aus Fatima Al Qadiris Asiatisch-Album zu hören. Die ›Ethno‹-Folie der (digitalen) Futurismen-Schattierungen ist austauschbar, die hanghellen Töne ›haunten‹-flottieren vor ›Desert Strike‹- oder ›Tropicalia‹-Hintergründen. Nach dem Vortrag kamen Monira Al Qadiri und Karen Orton zu einem kurzen, recht müden debate auf die Bühne.] Den Begriff ›Golf-Futurismus‹ haben Fatima Al Qadiri und Sophia Al-Maria in Umlauf gebracht (vgl. Karen Orton, Fatima Al Qadiri und Sophia Al-Maria, Die Wüste des Unwirklichen, in: Avanessian / Moalemi, Ethnofuturismen, 149-158, hier 149). Wie die anderen beiden Spielarten ist auch diese Subkultur mit den Erfahrungen von Emigration und Diaspora, von Standortwechseln zwischen Kuwait, Saudi-Arabien, Katar, London, USA, mit Spannungen zwischen »moralischen Regeln der Vergangenheit« und »überstürzte[m] Sprint in die Zukunft« (153) verbunden. Dazu passt, dass die Golfregion in der Einleitung als »Transit-Lounge« (29) beschrieben und Transiträumen zugleich allgemein ein hohes Potenzial für die Mobilisierung regionaler Futurismen zuerkannt worden ist (mit dem Baltikum als einem weiteren Beispiel, vgl. 35). Fatima Al Qadiri spricht von einem »äußerst bizarre[n] Schwellenraum« (152). So weisen die Spielarten von Futurismen also eine Reihe von transregionalen Gemeinsamkeiten auf: Aufsplitterung in der Diaspora, Umformierung von Projektionen, Crossreferenzen in Versatzstücken, Spannungsverhältnis von radikal Archaischem und radikal Zukünftigem inkl. des empfundenen Fehlens eines moderierten Übergangs: »Es gab einen Quantensprung und eine zeitliche Lücke. Beide Dinge wurden zusammengestückelt, doch es fehlt ein Stück Geschichte. Golf-Futurismus hat mit diesem Gedanken Gestalt angenommen« (150), erinnert sich Al-Maria. Auch Fatima Al Qadiri kommt es so vor, »als ob wir ein Jahrhundert übersprungen hätten« (150).

Inmitten der Wüste und der »innere[n] Ödnis« (152 u. 157) der Privaträume wurden die Malls zu Orten der möglichen Überbrückung, zu Orten der Verheißung, der Begegnung, des klimatisierten Flanierens, kurz: zu »dem Ort für alles« (155). »[W]e are astonished to observe that the building is windowless«, hatte es 1933 noch in einer Reportage von der Weltausstellung in Chicago über das »extrem moderne« Sears Roebuck-Gebäude geheißen. [Seeing Chicago’s Century of Progress Exposition, in: Sarasota Herald, 12.7.1933, S. 4.] Heute verkehrt in Berlin ein xbeliebiger Bus wie der X11er in 24 Minuten zwischen den Einkaufszentren ›LIO‹ (S-Bhf Lichterfelde Ost) und den ›Gropius Passagen‹ (U-Bhf Johannisthaler Chaussee). Welche Unterschiede ergeben sich im täglichen Gebrauch zwischen solchen eher peripher gelegenen Malls und zentraleren wie der ›Mall of Berlin‹? Spielt sich nicht in use eine vernakuläre Eigenheit ein, die wiederum einen Boden bietet für ›Zukunft‹ und ›Ereignis‹? – Wie sieht es aus mit dem Verhältnis von ›Zukunft‹ und ›Ereignis‹? von ›Geschichtsseligkeit‹ und ›Zukunftsödnis‹? mit dem ›Outsourcen‹ der Zukunft?

Feldforschung als Ausblick
Spannend wäre es, die skizzierten Futurismen-Spielarten in Feldforschung umzusetzen und dabei (neben Hongkong, neben Malls in use) auf den Malediven anzufangen. Die Malediven als ein Archipel, in dem ›Golf-Futurismus‹ und ›Sinofuturismus‹ aufeinandertreffen, in dem künstliche Inseln (Hulhumalé) mit chinesischer Hilfe aufgeschüttet und als ›City of Hope‹ für die Jugend vermarktet werden, in dem Saudi-Arabien das Faafu-Atoll mit einem Luxus-Entwicklungsprojekt zu überformen plant(e), die touristische Parallelwelt von ›Resortinseln‹ weitab der verdichteten urbanen Probleme der Hauptstadtinsel Malé liegt und das Reservoir an abgelegenen Inseln Platz für Reaktualisierungen peripherer Utopien im Stile des 2007 auf der Insel Himandhoo aufgetanen ›Mini-Kalifats‹ bieten möge [siehe meinen Text ›Über Inseln (Archipele)‹]. Doch welche Zukunftsentwürfe ›assemblieren‹ Jugendliche in Malé und Hulhumalé? Gäbe es nicht einen maledivischen Futurismus zu entdecken (ein ›Malfuturismus‹)?

* Die Begriffskomponente ›ethnisch‹ / ›Ethno-‹ wird zwar als offen und fluide konfiguriert (vgl. 8f.), bleibt vielleicht aber trotz expliziter Abgrenzung von neurechten Konzepten nicht unproblematisch. In der Einleitung heißt es: »Gesucht ist eine Vision der Zukunft, die zwischen der Auflösung aller Unterschiede einerseits und der genau entgegengesetzten Ideologie einer Bewahrung ursprünglicher Identitäten andererseits liegt. Der ethnienlosen oder gar post-ethnischen Vision der Zukunft der Weltgeschichte, die mit der Zukunft des Kapitalismus verbunden ist (pax americana, Ende der Geschichte, Washington-Konsens), entgegengesetzt, gilt unser Interesse den blinden Flecken und Paradoxien überregionaler Kulturpolitik, indem wir sowohl das Erbe, als auch die Komplikationen des Post-Kolonialismus betonen, und die Kämpfe, die mit dem Aufschwung einer hybriden und mobilen subalternen Welt verbunden sind.« (9f.) Wenn abschließend von »eine[r] neue[n] Vision der Zukunft« die Rede ist, die »das politische Gewicht ethnischer Diversitäten« begreife (38), scheint das zumindest zweischneidig. Kittler etwa spricht polemisch von ›Ethnie‹ als »diesem postkolonialen Unbegriff« aus der »UNO-Satzung« und urteilt: »Niemand sollte mehr von Stämmen oder Völkern reden können.« [Friedrich A. Kittler, Pathos und Ethos. Eine aristotelische Betrachtung, in: ders., Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht. Berlin 2. Auflage 2014, S. 391-395, hier S. 393.] Sind »ethnische Formationen« (9) nicht eben immer auch Praktiken der Ausgrenzung?

2018 September 7
literaturen
estherkinsky

Esther Kinsky,
Hain. Geländeroman.
Suhrkamp Verlag. Berlin 3. Auflage 2018.

Ich kaufte das Buch zwei Tage nach Einsturz der Genueser Autobahnbrücke und vor Antritt einer Fernbusfahrt. Ich hatte gerade hundert Euro geschenkt bekommen und kam mir glücklich-mondän vor wie ich mit den beiden gefalteten Scheinen in der Hand (in meiner Hose) auf dem Weg zum Busbahnhof in eine Buchhandlung trat, das verschweißte Exemplar mit dem Aufkleber ›Preis der LEIPZIGER BUCHMESSE 2018‹ auf der Vorderseite aus dem Regal nahm und die auf dem Buchrücken klein ausgewiesenen »€ 24,00 [D]« zahlte, als Abbitte für all die Mängelexemplare und gebrauchten Bücher der letzten Zeit, ob in Antiquariaten, als akkumulierte Medimops-Bestellungen oder schlechterdings als Scans (selbstgefertigt und von fremden Servern, bisweilen auch wieder ausgedruckt; Duplex, 4 auf 1 und getackert-gefaltet).

Der Bus fuhr am Bodensee entlang, passierte Idealdörfer wie Gutmadingen. So wie sich die Landschaft längs der Strecke präsentierte, wuchs der Untertitel des Buches – ›Geländeroman‹ – immer mehr zu einer Verheißung wie das Genre eines noch nicht erfundenen, literarisch-immersiven Videospiels. Indes, die Orte im Buch trugen andere Namen: »Olevano«, »Chiavenna« und »Comacchio« sind die drei Teile des Geländeromans überschrieben, wobei der erste der eindringlichste ist; luzide, lyrisch auch und nah. Die Autorin sprach gestern anlässlich einer Lesung im Programm des Internationalen Literaturfestivals Berlin von der »Wiedergewinnung des Blicks«. Der Mittelteil hingegen schwebt – trotz Ortsbezeichnung – ungebunden, in Erinnerungen an den verstorbenen Vater der Erzählerin, an gemeinsame Italienreisen, und wurde von der Autorin hiernach als »Erinnerungsteil« charakterisiert. Der dritte Akt – wie der erste wieder der »Erkundung« eines konkreten Geländes gewidmet – exploriert nicht mehr mit dem Blick der Neuerscheinung die Gegend um Olevano Romano, des ins Mittelgebirge austretenden Hinterland Roms; vielmehr verliert er sich im Delta des Po, mäandert wie die Gezeiten und kreist dabei zunehmend um sich bis zur Abblende – wäre da nicht die doppelte Coda aus Ravennaer Mosaiken und Fra Angelico, die die Himmelfahrt dieses Romans vor dem Entflüchten bewahrt, ihm das Gleichgewicht gibt zwischen Erdung und Auflösung.

Zu Beginn jedoch bewegt sich der Roman noch ganz »auf unbekanntem Gelände, abseits von Erinnerungen« (Esther Kinsky, Hain. Geländeroman. Suhrkamp Verlag. Berlin 3. Auflage 2018, Seite 17), mit der Ankunft der Erzählerin zwei Monate nach der Beerdigung von M. Der Verlust mitgebrachter Memorabilia – »Am nächsten Morgen fand ich eine Scheibe des Autos eingeschlagen.« (15) – wirkt einsetzenden Erinnerungen entgegen: Es ist dies vielleicht auch ein Widerwort gegen Bodo Kirchhoffs unsägliches Widerfahrnis-Buch (Deutscher Buchpreis 2016), das ich nicht las, dessen Cabrio-Autoglas ich jedoch zu Bruch gehen sah in dieser Szene.

Das Terroir ist Italien, ›fuori stagione‹ e ›fuori le mura‹. Winters in Italien, Widerworte, Isolation. Nach dem manichäischen Vorhof des Buches – »vii / morți« überschrieben wie eine Art Anweisung, das Geländer zum Gelände sozusagen, einführend wie jener Spruch über Dantes Inferno – (be)öffnet sich das Panorama, die Konstellation, der Schauplatz mit dem ersten Satz: »In Olevano Romano lebe ich auf einige Zeit in einem Haus auf einer Anhöhe.« (13) Natürlich kann man dieses Gelände auch a distanza durchstreifen, die Bilder auf Google Maps sind zehn Jahre alt.

Mit der Assoziation ›Max Frisch‹, konkret der Erzählsituation in Der Mensch erscheint im Holozän, stimmt die Lage am Hang über dem Tal, die Warte der einsamen, präzisen Beobachterin überein. Termini wie »Gewölk« (26), »Gezweig« (195) verstärken diese Affinität. Wo in Hain im dritten Teil ein Kirchturm aufgrund seiner Neigung als »Ausrufezeichen« gesehen wird (198), hatte Sabeth in Homo faber eine »letzte schwarze Zypresse« als »Ausrufzeichen« gedeutet (Max Frisch, Homo faber. Ein Bericht. Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M. 1. Auflage 1977, 69. Druck 2004, S. 151; worauf der Erzähler angemerkt hatte, dass Ausrufezeichen »ihre Spitze nicht oben, sondern unten« hätten). Wie der Vater der Hain-Erzählerin führt Hanna im Alter als »Fremdenführerin […] Mittelmeerreisegesellschaften« (Frisch, Homo faber, 200) durch ein Land, das im Zweiten Weltkrieg von deutschen Soldaten besetzt und versehrt wurde.

Doch zurück zum dialogischen Dualismus (fortan: Dialogismus) der Hain-Eröffnung: Da werden die »ungestrengen« Pinien konterkariert von den »scharf gegen den Himmel ragende[n]« Zypressen – wie ein »Widerwort« –, da finden sich Birken als »versprengte […] Irrgäste« im Olivenhain, die Birkensamen vielleicht von einem hier malenden Landschaftsmaler von nördlich der Alpen achtlos mit dem Taschentuch aus der Weste gezogen. (13) Der Ausdruck ›sich scharf abzeichnen gegen‹ rekurriert wiederholt – wie auch das Füllwort ›allenthalben‹ –, nicht selten in Verbindung mit Sprachzeichen; so steht auf Seite 196 „ein großes kranartiges Gerüst […] gegen den Himmel […] wie ein Satzzeichen«. Diese gekoppelte Verwendung von ›Zeichen‹/›Sprache‹/›sich abzeichnen‹ markiert auch den Unterschied von ›Landschaft‹ und ›Gelände‹, ist doch letzteres jenes, das Zeichen trägt, das Rückstände aufweist. Die Autorin sprach während der Lesung von »Gegend« und »Versehrung« und erläuterte auch den Begriff des »gestörten Geländes« aus den Naturwissenschaften, somit ›Gelände‹ von ›Landschaft‹ abgrenzend.

Als auf Seite 20 eine »Rauchsäule« emporsteigt und ein »sanfter Brandgeruch« über »allem« lag, hält auch der Fernbus auf der Autobahn und weiter vorne wölbt sich immer größer eine schwarze Brandwolke empor. Im Stau bildet sich eine Rettungsgasse, Rettungsfahrzeuge mit Sirenen preschen zur Unglücksstelle.
Tatsächlich aber bleiben die olfaktorischen Übermittlungen in dem Geländeroman spärlich und wirken dadurch umso stärker: das Verbrennen der alten Olivenzweige durch die »Schnitter« (102), das Lichten des Haines nach dem Winter als Trauerarbeit, der Hain wirkt nun »lichter«, »aufgeräumter« (105). Im dritten Teil der Gestank der Gingkofrüchte auf dem jüdischen Friedhof in Ferrara (vgl. 205). Keinesfalls ist Hain so betörend-betäubend wie Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen, wenn sie auch Übereinstimmungen aufweisen, sei es im topografischen Entwurf, sei es in der präzisen, naturkundlichen Bezeichnung von Pflanzen, Vögeln und anderen Tieren.

Die Toten in Gestalt von M. und dem Vater werden in Hain erinnert, aber auch tote Tiere kehren symbolistisch wieder; die von einer Möwe totgehackte Taube, der in den Abgrund gestürzte Viehtransporter. Auch der Ekel der Erzählerin vor Aalen, ihrem Aasfraß, ihrem Zug über die Wiesen in Massen nach der Sargassosee ist ein vielverwandtes Motiv. Es schafft zugleich eine seltene Verbindung über die Alpen hinweg, tauchen sie doch sowohl im toten Rheinarm wie im Delta des Po auf, geräuchert und in Becken in Auslagen beider Orte. Hier könnte auch auf andere sinistrere Fingerzeige verwiesen werden, so die über die Täler und Hänge von Olevano Romano tönende Frage des mobilen Gasinstallateurs nach Gasgeruch, die für die subkutan sich anreichernden Versehrtheitserfahrungen im Hintergrund des miracolo economico sprechen könnte: Durchgreifende Infrastruktur- und Modernisierungsprojekte wie der Tunnel in Olevano, der dem Ort sein Gepräge gibt, das Ländliche entstellt, die Anbindung an Rom bemisst: mit einem Mal durch den Berg geschossen statt die Hügel hochgekurvt. Es ist weiter das hinterland eterno der pianura padana, eine »farblose Provinzialität« (66) vielleicht, von Musterküchenfachgeschäften, Showrooms unter Staub, »Brache« (76). Und es sind die unbestimmt und unerklärlich bleibenden Detonationen in der Ferne, die die Erzählerin sowohl in Olevano als auch in Comacchio hört.

Es ist ein Geländeroman über die Mischformen von An-Urbanisierung und ländlicher Siedlungsdichte, von Ausfallstraßen und bestelltem Gelände, mit Sensibilität für Zwischenorte, Pendlerwege und Begegnungsorte wie die Bushaltestelle. Der »Zwischenplatz« (63) des akzidentiellen, akkumulierten Schrotthaufens auf einer ehemaligen Aussichtsterrasse, die Konstatierung – »Alles war Passage.« (78) – und die baldige Gewinnung des Friedhofs von Olevano als »Insel des Trostes« (78). Dazwischen – als ebenfalls immer wiederkehrendes Motiv – Grüppchen »ratlose[r], rastlose[r] Afrikaner« (65), die verloren an Straßenecken warten. In einer nächsten Erzählung wären sie vielleicht als ›Psychopompoi‹ zu besetzen wie Dantes Vergil im Inferno.

Auf Seite 16 ist der Zusatz «mit Matrosenthema« misslich, auf Seite 31f. die Formulierung »hinter Schloss und Riegel«, doch andere etwas banale Sprachbilder wie das ›Würfeln‹ zwischen Wasser und Hinterland um einen Streifen Marschland werden durch unerwartete Volten wieder aufgefangen: »Würde man sich im richtigen Winkel in den Wind lehnen, würde man womöglich das leise Klacken hören, mit dem die Würfel aneinanderstießen.« (70) Und ich bin noch dazu unendlich dankbar, dass es hier nicht lautet ›Klackern‹.

Die Gezeiten, das Marschland als Land des Übergangs, zeigen den Dialogismus, das Ineinanderbegriffen-Sein von Land und Meer an – so auch von »vii / morți« (nach den Gesetzen der Gezeiten)?

Es ist da das Bild der ›Atemschaukel‹ nach dem gleichnamigen Roman Herta Müllers, ob das hier anzubringen wäre? Sicher doch Boris Pahors Nekropolis; das Suchen, das Aufsuchen von Stätten, die Ortsbesuche, die Verarbeitung von Trauer. Sind nicht die Nekropolen der Etrusker, die in Hain immer wieder besucht werden, auch Trauerstätten, die mit dem Besuch des jüdischen Friedhofs in Ferrara und der Suche nach dem Grab Giorgio Bassanis vereint werden können, die Trauer über M. auch mit jener über die Shoah?

Der erste Teil des Romans endet mit der Abreise aus dem Mittelitalienischen in die Po-Ebene, »das riesige Delta, unstet und schwerelos, mal Erde, mal Meer, immer auch Himmel« (117) – so wie Beppe Fenoglios Partisanenroman Il partigiano Johnny mit Moby Dick verglichen worden ist, die Hügellandschaft, das sanfte Auf und Ab von Hügel und Senke mit dem Wellengang des Meeres, hier zur Adria.

Das Bild von der »bewegliche[n] Panoramabühne« (17), als die ›Landschaft‹ auf der Autobahn vorbeigezogen wird, erinnert an eine Szene aus Bernhard Sinkels Verfilmung des Taugenichts von 1978, der Nachahmung einer Kutschfahrt. Fotografie ist ein weiteres durchgängiges Motiv des Romans: Belichtung, Geäst, Negativstreifen, Gegenlicht, Geäst-Gedächtnis-Struktur.

Akzente wie der »Mantel in Orangerosa«, der »an das Fruchtfleisch von Papaya oder die Narbe einer Brandwunde« erinnert (81). Später eine Wiederkehr, an einem trüben Tag in Lido di Spina, eine Frau in »rosa Trainingsanzug« (262), mit Pelzmantel und zwei Hunden: »Wenn diese sich an ihren Pelzmantel drückten, sahen die drei von hinten aus wie ein einziges seltsames Tier« (263).

Die doppelte Coda bilden, wie gesagt, die Mosaiken von Ravenna und die Lamentatio Fra Angelicos. Erstere stabilisieren die Narration in einem aufgehobenen, geborgenen Zwischenzustand: »In der Mitte des hellen Blaugrüns zeichnete sich schwach ein Umriss ab, der alles sein konnte – ein Boot, eine Insel, eine versunkene Stadt, der Schatten einer Wolke« (276). Zuvor war die Gefahr eines Sich-Verlierens, einer Auflösung durch das wunderschöne Motiv der »Blautrunkenen« angedeutet worden: Betrachtete man zu lange die Mosaiken im Mausoleum der Galla Placidia, »würden die Wärter nach Feierabend die lästige Aufgabe haben, die Blautrunkenen aus der Luft zu pflücken und irgendwo abseits und von jedem Blau geschützt wieder zur Besinnung kommen zu lassen.« (275) Die Emporflüchtenden, die Himmelwärtsauffahrenden werden zurückgehalten. Es endet, in bilico, im ewigen »Zwiegespräch« (276), im Dialog von Himmel und Erde, von vii und morți.

Angehängt findet sich noch eine Beschreibung des Trauerbilds des Fra Angelico über den Tod Franziskus von Assisis. Als ich das Gemälde ›Drei Teile einer Predella‹ unlängst in der Berliner Gemäldegalerie sah, kurz vor der Abendschließung, war ich vor allem von der rechten Tafel der Predella angetan, jene, die einen Raum mit Franziskanermönchen zeigt, denen ihr Stifter erscheint. Faszinierend ist nicht zuletzt der geöffneten Durchgang in den Garten im Hintergrund, wie auch die Türöffnung links im Bild, durch die gerade ein Mönch verschwindet: »Kein Tupfer Blau findet sich auf dem Bild. In Abwesenheit des Himmels bleiben die Hinterbliebenen gefangen im unberechenbaren Raum des Traums.« (280)

2018 August 8
literaturen
interpretation
faserland

Hans Kruschwitz' Kritik an Christian Krachts »totale[r] Ironie« in der aktuellen Ausgabe des Merkur bietet die eine oder andere Anregung um auf Faserland zurückzukommen.

Zum einen ist es ärgerlich, dass jene Deutung, wonach das Ende von Faserland als Suizid anzunehmen sei, als Tatbestand referiert wird – »der Schnösel, der hier vom äußersten Norden bis in den äußersten Süden Deutschlands reist, um in der Schweiz Selbstmord zu begehen«, wie Kruschwitz unterstellt. Dabei fragt die Hauptperson auf der letzten Seite des Romans schließlich nur einen in einem Ruderboot an einem Schiffsanleger dümpelnden Mann, ob er ihn »auf die andere Seite des Sees rudern würde«. Nachdem dieser einwilligt, heißt es weiter: »Ich steige ins Boot und setze mich auf die Holzplanke, und der Mann schiebt die Ruder durch diese Metalldinger und rudert los. Bald sind wir in der Mitte des Sees. Schon bald.« (Christian Kracht, Faserland. 16. Auflage München 2013, S. 158) Mit diesen Sätzen endet der Roman.

Man kann dieses offene Ende als Verschwinden deuten, als ein Sich-Verlieren in der Mitte des Zürichsees, aber vielleicht auch als Umkehr der Reiserichtung, als begonnene Rückkehr (gen Norden, vielleicht auf jenen anderen See, den Bodensee, weisend), doch bleibt es letztlich unbestimmt. Der Protagonist rudert nicht selbst, aber vielleicht mag auch so die Tätigkeit des Ruderns dem einfacheren Motiv des ›Gang ins Wassers‹ (vom Ufer aus, von einer Brücke) widersprechen. Auch verwiese die Rudertätigkeit vielleicht auf die alle Werke verbindende »Motivation des Autors« Kracht, als welche Kruschwitz »Trauerarbeit zu leisten« ausmacht – wie viele Autor_innen im Nachgang zu Krachts Frankfurter Poetikvorlesungen, siehe etwa Felix Stephan in der SZ vom 16. Mai 2018 unter dem Titel ›Christian Kracht. Leiden und Werk‹. Der Protagonist besucht den Friedhof von Kilchberg, sucht das Grab Thomas Manns, findet es nicht und steigt dann den Hügel hinab zum Seeufer. Dann wäre vielleicht der Friedhofsbesuch der Schlusspunkt der Trauerarbeit und das Zurückrudern schon ein Aufbruch zu etwas Neuem, ein Teil des Rückwegs (auch wenn dieser in sospeso, ›in der Schwebe‹ bliebe). – Dies sind alles nur Interpretationen – Das Bild des hiatus, der Schwebe/Aufhebung – gleichzeitig der Kluft und wie man sie (aus)fülle – ist dann am eindrucksvollsten in Imperium zu finden; in der memorablen Szene, in der der hoffnungsfrohe, baldgetraute Lützow beim lässig-eleganten Sprung über die Reling, von einem Oberdeck auf das danebenliegende, abrutscht und im Zwischenspalt zwischen zwei Schffswänden zermalmt wird.

Kruschwitz gebraucht zweimal den Begriff »Formverlangen« für Krachts Erzählstil. Das scheint passend und ich frage mich, in welchem Spannungsverhältnis der Begriff mit jenem des ›Erfahrungshungers‹ stehe. Dabei denke ich an eine andere ›Deutschlandreise‹, jene Wanderung Michael Holzachs von Hamburg an den Bodensee und zurück im Jahr 1980, die in dem Buch Deutschland umsonst seinen Niederschlag fand, an die Bedeutung, die auch hier die Internatsjahre spielen. Und an weitere, immer leicht abgründige Erzählungen und Verfilmungen des Genres Gehen/Reisen durch D. (Werner Herzogs Vom Gehen im Eis, Peter Fleischmanns Die Hamburger Krankheit).

Die unvermittelten NS-Bezüge in Faserland, die Kruschwitz zur »Methode Kracht« zählt, wären vielleicht noch einmal gewinnbringender an jener Stelle zu vertiefen, wo die Beziehung zu Uwe Kopf, der in Faserland als »ein ziemlich harter Nazi« (siehe untenstehenden Eintrag vom 1.5.18) bezeichnet wird, sich andeutet, die Kurzschlüsse von Fiktion und Kommunikation, ihr double-bind mit realen Personen. (Ich weiß nichts davon.)
»Trauerarbeit« und »Formverlangen«, also; dazu die Brechung, der Einbruch. Kruschwitz spricht von »Doppelbindungen«.

2018 Mai 01
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interpretation
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Seidenspinnerraupen-Faserland: Über Verbindungen zwischen Kopf und Kracht

Nachdem ich das rührstückig-abgründige Rory Gallagher-Kapitel aus Uwe Kopfs Romandebüt Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe (2017) als Vorabdruck im deutschsprachigen Rolling Stone gelesen hatte, kaufte ich das Buch. Einige Wochen später, nach der Lektüre, kaufte ich am Bahnhof Südkreuz wiederum Christian Krachts Faserland (als dtv-Mängelexemplar, 16. Auflage 2013, für 3,50), sein Romandebüt von 1995, und stieg in den Fernbus. Während der Fahrt, mit Kopf im Sinn und Kracht zur Hand, taten sich nach und nach mehrere Verbindungen zwischen den beiden Bildungsromanen auf. Eine Auflistung:
  1. Satte Farben: Krachts »Barbourgrün« (S. 29), Kopfs »bibleblack« (100)
  2. Kindheitserinnerungen: ins Bett geschissen (Kracht, 33), ins Bett gepisst (Kopf, 73)
  3. unvermittelte NS-Bezüge, geradezu obsessiv, in beiden Büchern
  4. Rollo: Sowohl bei Kracht als auch bei Kopf taucht eine Figur namens »Rollo« auf. »Rollo ist ein alter Freund von mir«, heißt es im sechsten Kapitel von Faserland (107), eine Person, die wie Simplicissimus’ Baldanders oder Bardamus Robinson immer wieder auftaucht in den unterschiedlichsten Situationen. Rollo rettet den Erzähler nach seinem Zusammenbruch in Heidelberg und bringt ihn nach München. Später, bei Rollos Party am Bodensee – die Rollen vertauscht, Rollo hilfsbedürftig auf dem Steg, gebrochen wie der große Gatsby – lässt er ihn im Stich und flüchtet in die Schweiz, wo er aus der Zeitung von Rollos Tod im See erfährt. Auch bei Kopf gibt es Toms »Kumpel Rollo« sowie eine »Party bei Rollo« (47). Rollo taucht in verschiedenen Episoden auf, etwa beim gemeinsamen Gang in die Herbertstraße, wo er von »koitieren« (59) spricht. Dazu kommt es später zwischen Sören und Gila auf einer weiteren Party Rollos: »Mein Bruder schläft mit meiner Freundin«, denkt sich Tom (168). Und Rollo schaut zu.
  5. Thomas Mann: Krachts Erzähler mag Thomas Mann, hat ihn »auch in der Schule lesen müssen«, findet ihn »richtig gut« (154). Toms Bruder Sören — d. i. Kopfs Alter Ego — mag Thomas Mann nicht, Tom kennt ihn aus der Schule (Kopf, 52).
  6. Öffnungszeiten von Gotteshäusern: Krachts Erzähler möchte in der Schweiz eine Kirche betreten: »Ich denke, da gehe ich jetzt mal hinein, vielleicht wegen Rollo, aber leider ist die große Eingangstür geschlossen, weil es eine protestantische Kirche ist, und die müssen nicht immer offen haben, so wie die katholischen Kirchen.« (Kracht, 150) Toms Mutter berichtet aus bayerischer Erfahrung: »Das Wirtshaus schließt zwischendurch, das Gotteshaus hat immer geöffnet«, doch muss Tom feststellen, dass die Lutherkirche St. Gabriel bei ihm vor der Tür »an einem Mittwochmittag […] abgeschlossen« ist und denkt: »[D]ie Protestanten mussten wohl andere Öffnungszeiten haben als die Katholiken« (185).
  7. Bier im Anfangssatz: »Also, es fängt damit an, daß ich bei Fisch-Gosch in List auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke«, lautet der erste Satz bei Kracht. Auf der übernächsten Seite erfährt man, dass dem Erzähler »Jever eigentlich gar nicht schmeckt« (15). Tom hingegen trinkt Jever, sein Lieblingsbier, das seine Mutter immer für ihn bereithält. Im Anfangssatz taucht jedoch auch bei Kopf eine Biersorte auf, die Tom nicht schmeckt: »Bevor sich dieser 40-jährige Junge nach Art der Greise erhängen wird, wäscht er noch mal Wäsche […] und während die Waschmaschine läuft, bestellt er sich eine Pizza […], dazu drei Dosen Bier (Warsteiner, er mag dieses Tantenbier eigentlich nicht, aber der Pizzadienst führt keine andere Sorte)«. Und auch bei Kopf wird der »Fischhändler Gosch auf Sylt« referenziert, daraus das Verb »goschen« abgeleitet, von dem sich Sören sozusagen abgrenzt, indem er »jevert« (258).
  8. Pet Shop Boys: Die laufen in Faserland auf einer trostlosen Party (40), der Erzähler mag sie auch nicht wirklich, nippt am Prosecco. Der Prosecco kommt erst mit der letzten Freundin Eva in Toms Leben, für Eva lässt er Rollo und das Bier im Stich (Kopf, 266). Als Eva mit Tom Schluss macht, hört Tom aus einer Kneipe einen Song der Pet Shop Boys und erklärt Eva die Bedeutung hinter dem Bandnamen; dass er sich ableite von der Praxis sich in einem Präservativ Seidenspinnerraupen rektal einzuführen, »die Seidenspinnerraupen krabbeln wie verrückt in dem Kondom und haben Angst; sie können nicht mehr atmen, sodass nach und nach ihre elf Gehirne absterben« (308).
    (Bei systematischer Durchsicht der beiden Werke unter Einbeziehung der Beziehungen zwischen den beiden Autoren fänden sich mit Sicherheit noch weitere Bezüge.)
Und dann taucht Uwe Kopf – schier unglaublich für mich ahnungslosen Leser, der sich gerade noch die Parallelen anstrich und dann gleichsam vor den Kopf gestoßen wird – in Faserland auch noch persönlich auf: In München, in einer angesagten Bar mit Namen ›Ksar‹, sieht der Erzähler »plötzlich [...] in der Ecke diesen einen Menschen sitzen und auf jemanden einschreien. Es ist Uwe Kopf, dieser Kolumnist, oder was auch immer er ist. Er hat eine Vollglatze, und das paßt ja auch ganz gut zu ihm, weil er ein ziemlich harter Nazi ist.« (Kracht, 114) – Disclaimer: Ich habe die beiden Autoren nicht gegooglet und auch die Verbindung zwischen beiden nicht recherchiert, ich mache das hier nur nach den beiden Büchern und auf dem Einband im Autorenporträt sieht man in der Tat keine Haarpracht Kopfs (auch weil er eine Mütze trägt), aber dass er als »Nazi« bezeichnet wird, wieso das? Wäre er einer gewesen, dann hätte er wohl kaum im Rolling Stone und in anderen Tageszeitungen als Kolumnist veröffentlichen können. Also wohl literarische Fiktion, aber aus Zu- oder aus Abneigung vonseiten Krachts? Jedenfalls berichtet der Erzähler Krachts weiter, dass Kopf ihm einmal auf einer Party ein »Sturmfeuerzeug an die Stirn geworfen« habe, dass er »sehr gewalttätig« sei und dass er »im fränkischen Wald so eine homosexuelle Wehrsportgruppe« habe (114f.). Es gibt auch einen Tumult in der Bar, doch verlassen Erzähler, Rollo und Hannah das Lokal bevor sich herausstellt, ob Kopf involviert war oder nicht.

Kopfs Seidenspinnerraupe ist posthum erschienen, mit einem Zitat Christian Krachts auf der Rückseite, das lautet: »Uwe Kopfs sardonisches Romandebüt ist brillant und zutiefst erschütternd und voller Heiterkeit.« Es ist auch tieftraurig und entsetzlich, ohne das wirklich zuzugegeben. Das stößt erst im Nachgang auf. So wie die Oma Loris in der »Abstellecke« (Kopf, 37) entsorgt wirkt, so entsorgt Fritz Honka in Heinz Strunks Der goldene Handschuh (2016) die Frauenleichen neben seinem Bett. Nimmt man noch Stuckrad-Barres Panikherz (2016) hinzu, so ergibt sich eine norddeutsche Trilogie der Tristesse. Strunk und Kopf lassen den Lesenden zurückfahren wie vom beißenden Geruch von dampfendem Klostein, faszinierend-grotesk anzusehen so wie Labskaus, »Mutters Leibspeise« (Kopf, 92). Irgendwo erinnert das dann auch noch an Franz Witzels BRD-Groteske Erfindung der Roten Armee Fraktion (2015), die aber den poetischen Irrgarten wuchern lässt (›komm in den totgesagten Park und schau‹), wo Strunk und Kopf olfaktorisch direkt to the senses fahren-auffahren.
Wo Thoreaus Waldenepiphanie des aus dem sechzig Jahre alten Apfelbaumholz eines Tisches schlüpfenden Käfers für den »Glauben an Auferstehung und Unsterblichkeit« steht – siehe Eintrag vom 14. Mai 2017 unten –, da bedeuten Kopfs im Anus aus Jux, Pop und pleasure erstickende Seidenspinnerraupen das Zugrundegehen, die Ausbeutung, das Leid, die Brutalität und Hoffnungslosigkeit; das Ende.

2018 April 30
expokritik
neolithische kindheit

Schön die Exposition »Neolithische Kindheit«, dachte ich den Ankündigungen nach, radelte ins Haus der Kulturen der Welt und sah wenig: Buchdeckel in Vitrinen, Typoskripte hinter Glas; zugleich in einem der beiden Räume einen übertriebenen Aufbau, der die letztlich bloß lieblos gehängten Kunstwerke gegenüber an die Wand drückt. Blickt man sich um von dieser monströsen Galerie, wirken die Exponate in den Glaskästen nur noch verlorener in den Weiten des Walfischbauchs der Muschel ›HKW‹, diesem in den Ausstellungsräumen so lichtscheuen Gebau: So trübe wie die seit Jahren unverändert ausliegenden Exemplare in staubigen Schaukästen im gleichfalls überweiten Eingangsbereich der Staatsbibliothek an der Potsdamer Straße.

Zum Rundgang zur Hand ein »Manual«, mit Bezeichnungen und Erläuterungen, ohne Abbildungen, fingerdick. Bequemer wäre es wohl auf die Veröffentlichung des Katalogs zu warten, wo dann mutmaßlich Bild und Text in Konstellation gesetzt sind, und sich mit diesem auf das Dach des Hauses zu setzen und zu blättern. Denn zu Entdecken gäbe es vieles, mit Bedacht kommt die Suggestion wieder, jene des Untertitels »Kunst in einer falschen Gegenwart, ca. 1930«, jene des unvollendeten Handbuch der Kunst-Projekts Carl Einsteins, einer alternativen Erzählung der Kunstgeschichte des Menschen in allen Facetten, vom »Faustkeil« bis zu »Mickeymaus«. Und die Vorgeschichte ist dabei, zyklisch, Ausgang und Fluchtpunkt — »ca. 1930« —: »La préhistoire comme époque la plus importante.« So viele Diskurse und Interessensgebiete werden in den einzelnen Kästen aufgerufen und bleiben doch vielfach stumm; manche Filmchen flimmern, manche Bücher sind aufgeschlagen, manches war auch schon in den Ausstellungen Dada Afrika in der Berlinischen Galerie oder Kunst der Vorzeit im Gropius-Bau zu sehen.

Doch das ist schön: Fotografien von Brassaï und von Eli Lotar aus Paris, Kritzeleien der Graffiti-Serie, die Schlachthöfe von La Villette. Ein besonders schönes zeigt einen jungen Mann im Anzug auf dem Trottoir, der zu seinen Füßen einen Haufen Gedärme betrachtet, der eine interessante Form zeigt. Eine skulpturale Glubschigkeit, wie später die »Meat Pieces« von Paul Thek. Hier denke ich an die Schlachthof-Schilderungen in Berlin Alexanderplatz, an Ekel und Verachtung im Ton Louis-Ferdinand Célines — dessen Romandebüt hier fehlt, auch wenn es sich in einem der Kästen gut gemacht hätte, erschien die Reise ans Ende der Nacht doch 1932 und sorgte für Furore. War sein Argot nicht auch ein Stück neolithische Kindheit? André Massons Schwarz-Weiß-Federzeichnung Massacre. Raub der Sabinerinnen von 1933, die so modern wirkte wie von Jean-Michel Basquiat. Überhaupt könnte die neolithische Kindheit bei Basquiat weitergehen. Messerscharf, federhart, ritz ritzt die Gewalt und zugleich so klobig-unförmig wie aus bösen Träumen überhand; die Messer in den Pranken verwachsen, die Paarungen im Zeichen von Gewalt und Erniedrigung. Dann Klee, Klee geht immer, Starres und Bewegtes geistert (1929).

Und hinterher, im Auditorium, rütteln Goat — aus Osaka, nicht jene aus Schweden, ich war verwirrt — die Konnotationen wieder durch und zeigen wie ein Saxophon hier im Bauch des Walfischs seine Töne tuten, pressen kann und wie so ein Instrument auch perkussiv zu nutzen wäre.

2018 April 08
kurzkritik
theater
trilogía del infinito II

Angélica Liddells zweiter Teil einer Trilogie der Unendlichkeit war am Samstagabend beim Festival Internationale Neue Dramatik an der Schaubühne zu sehen. 5 Stunden nackte Körper, Schönheit und Grauen, Visionen und Ästhetik, in langen Monolog-Tiraden und streng choreographierten Gruppenbildern.

Es endete verstörend versöhnlich zwischen Feuer, Pisse und Gold im Garten Eden nach einem Vorlauf voller Verdammnis: im All nur Leere, keine Lehre, nur infame Niedertracht, ohne Erlösung, im Körper nur Fett, Wasser und Blut. Und es wurde auch nachgeschaut: »der Mord des japanischen Gaststudenten Issei Sagawa an seiner Kommilitonin Renée Hartevelt im Jahr 1981, deren Leichenteile er im Anschluss kochte und verspeiste« diente als Anlass die Glieder zu öffnen und wurde als Referenz, als Sujet immer wieder eingepflegt. In allen Löchern wurde nachgeschaut: mit Körpertechniken, die 4 tote Oktopusse sowie weitere lebende und tote Fische involvierten, wie der ungläubige Thomas den Finger in die Wunde legte. Übungen, Stochern nach der Seele – deren Entdeckung doch alle abschrecken würde – in Wimmelszenen, strenge Zeremonien, zwischen oben und unten, Erschöpfung und Ekstase, aufgeführt von dem achtfachen Kollektivsingular der toten Studentin versus und vis-à-vis der dreifachen Ausgabe des japanischen Studenten.

Toll: Techniken, Kostüme, Choreographien und Ton. Die Fanfarenstöße machten dort weiter, wo der bei der diesjährigen Berlinale gezeigte An Elephant Sitting Still in seinem Schlussbild aufgehört hatte: dem befreienden, durchdringenden Trompetenstoß des Elefanten. Mythisch zu werden forderte Liddell in ihren Monologen, in ihren unwidersprochen bleibenden Elogen der Gewalt, des Ekels, die sich zunehmend aufrieben / abnutzten. Der Rekurs auf das Bataclan-Attentat schien wenig gelungen. Die japanische Deklamation, auch der japanische Chorgesang so viel eindringlicher als das peinliche Zwischenspiel eines braven (deutschen) Chors im letzten Akt.

Magischer Realismus in den Erzählungen von der Kindheit auf dem Lande, brachiale Symbolik wie aus rohem Fisch gebissene Stücke und das alles auf einem Himmelszelt als Bühnenuntergrund, eine blau gemalte Fläche mit goldenen Sternen, wie eine Kastendecke aus einem rinascimentalen Palazzo. »Wieso verschlingt uns die Erde nicht?« Weil sie schon im Himmel tanzten? Ein gran teatro del mundo im Himmel wie von Calderón, zwischen Gravitas und Gosse, wo Charlotte Gainsbourg am Beginn von Nymphomaniac zerschlagen aufgelesen wird.

2018 März 24
filmkritik
derhauptmann

Der Film Der Hauptmann (2018, Regie: R. Schwentke) ist eine Farce; verstörend und in dieser seiner verstörenden Wirkung zu problematisieren. Wie das? Zum einen ist er so glatt-geschichtslos und superfiziell wie im letzten Jahr schon Christopher Nolans Dunkirk; nur Bilder, front(-end), keine Rückseite, keine (selbstreflexive) Offenlegung oder Dekonstruktion (full disclosure, making of), keine Einsicht. Ein Bruch, eine Tiefe tut sich im Hauptmann nur an zwei Stellen auf, jeweils mittels eines Bezugs zur Gegenwart: das erste Mal, als eine Farb-Einstellung des abgeernteten Ackers zu sehen ist, auf dem bis Kriegsende 1945 das Emslandlager ›Aschendorfermoor‹, im Film ›Lager II‹ genannt, stand; das zweite Mal im Abspann, als der Wagen mit der Aufschrift ›Schnellgericht Herold‹ durch Görlitz im ›Jetzt‹ fährt. Diese letzte Szene, die Hauptdarsteller in NS-Uniformen, im Cabriolet vom Görlitzer Bahnhof die Berliner Straße ›entlangcruisend‹, grüßend, feixend, am Stadtplatz dann dem Auto entsteigend und Statisten drangsalierend, das erinnert an K.I.Z.-Musikvideos und an den Er ist wieder da-Klamauk, den ich nie verstanden habe. Und was, wenn jemand vom Straßenrand mit erhobenem Arm zurückgegrüßt hätte? Im letzten Sommer, in der Oberlausitz, erinnere ich mich an die NPD-Wahlplakate in den Ortschaften, die dort weitestgehend konkurrenzlos hingen, und an die Bahnhofsbuchhandlung in Görlitz, die die Zeitschrift Compact prominent platziert hatte. Gar nicht so abwegig also!

Das historische Sujet – der Fall ›Willi Herold‹ des flüchtigen Gefreiten, der erst in den Mantel des Hauptmanns und dann in dessen Habitus schlüpft, diesen forciert, auf die Spitze treibt, ja ihm vielleicht auch, mit seiner Entourage durch die letzten Kriegswochen fouragierend, gleichsam gewaltsam die Spitze brechen möchte, ein Himmelfahrtskommando – diese historische Vorlage, ist nur dünnes Papier, Kostüm wie der Mantel, denn der Film bleibt ganz erfahrungslos-gegenwärtig. Der Dreh könnte jederzeit hinüberwechseln zum Set von Wir sind jung, wir sind stark, nur ein weiterer Kleiderwechsel, bezugslos wie in Musikvideos.

Auch schauspielerisch bleibt Der Hauptmann ausdruckslos; Mimik wie bei Fifa. Hauptdarsteller Max Hubacher sagt Sätze auf, Frederick Lau torkelt fremd durch den Film als wäre er mit dem Kopf noch bei Victoria, auch wenn er Gefangene totprügelt. Verstörend, ja, aber ist das nun eine Stärke des Films oder einfach nur schockierend? Keine Darstellung von Geschichte, auch keine Suggestion – was ja vielleicht auch so falsch nicht ist –, in diesem Sinne mehr Die Welle als Fury oder sonstwelche reinszinierte War-Mimikry. Das ›Heroldkommando‹ als Gegenstück zu Brad Pitts Bande in Inglorious Basterds? Natürlich überzeichnet der Regisseur willentlich, doch manchmal, mittendrin, hielt ich den Film für total verunglückt – und dadurch für so verstörend (und bedenklich): Konnte man diesen Film nicht wirklich erst 2017 drehen (20 Jahre habe der Regisseur an diesem Filmprojekt gearbeitet, heißt es)? Und, wenn ja, was sagt das aus über die Gegenwart? Wie wäre also der Film selbst (einmal) zu historisieren? So wie das heute wieder ganz spannend möglich ist mit dem DEFA-Film Ich war neunzehn (1968), der das Vorrücken der Roten Armee durch brandenburgische Provinz zeigt und dabei einem jungen sowjetischen Leutnant folgt, der 1933 mit seinen Eltern aus Deutschland geflohen war.

Die durchexerzierte Schwarz-Weiß-Ästhetik, die Gewalt, das wirkte für mich wie ein Zwischenstück aus einem Kriegsspiel für die Spielkonsole, kurz eingeblendet um die ›Handlung‹ voranzubringen bevor die Kamera wieder in die Third-Person-Shooter-Perspektive wechselt. Ist dies nicht eine ›bipolare Störung‹ von fehlendem Tiefgang und an die Hand gegebenem engagement (als Entertainment)? Natürlich, dies ist ein Spielfilm, und Videospiele sind auch nur lose inspiriert von historischen Ereignissen, doch ›handhaben‹ beide Genres ›Geschichte‹ und ›vermitteln‹ sie auch in einem gewissen Sinne. Ich denke daher – ohne zu kulturkritisch sein zu wollen –, dass der Aspekt der Geschichtsvermittlung und -verarbeitung in diesem Zusammenhang einfach anfällt. Die mediale Verfügbarkeit von ›Geschichte‹, oder eher: von einzelnen Bildern und Tropen losgelöst von ihrem historischen Kontext, ist zu problematisieren. Sie macht eine bessere Schulung im medialen Leben und Erleben erforderlich, die das ›Hinterland‹, die ›Tiefe‹ hinter dem screen, dem immer wieder als ›flach‹ zu denkenden Internet, auftun und explorieren muss. Fast wie die einfache Verfügbarkeit – und Bedienbarkeit! – von Waffen in den Vereinigten Staaten dem Terror einzelner immer wieder Vorschub zu leisten scheint, so sind es doch auch medial ohne historische Rückbindung kursierende Versatzstücke (Bilder, Zitate) – etwa fake news amalgamiert aus Stereotypen und Suggestion –, die für verbale und nonverbale hate crimes zupasskommen.

Wie hätte es nun besser sein können mit dem Hauptmann? Vielleicht, wenn in den Gewaltszenen einmal das Bild ganz schwarz geworden wäre – alles schwarz und Schweigen –, als ein Moment der Distanz, des Nichtzeigens, auch ohne Ton. Wenn die Tonangel, wiederum, einmal in den Bildausschnitt geragt hätte, vielleicht auch von einem Darsteller zurückgestoßen oder aufgegriffen. Wenn die Tennissocke des Wehrmachtsstatisten unter der Uniform zu sehen gewesen wäre. Wenn das Intro aus Jesus Christ Superstar – der Bus mit den Darstellern fährt ein in die Wüste, sie entsteigen diesem und das Spiel beginnt – (konsequenter und nicht nur im Abspann) zitiert worden wäre. Oder, finally, wenn der Film zwei, drei (angedeutete) Volten mehr gehabt hätte. Möglich aber auch, dass hinter dem Dröhnen der Soundeffekte, dem Schlussblick auf das Totenfeld im Wald eine sublimere Bildsprache zu entdecken gewesen wäre, die ich nicht sah.




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2017 Dezember 22
essay
berlin

Der Checkpoint Charlie als (›Nicht-)Ort(‹) (des ›Endes der Geschichte‹)

›Checkpoint Charlie‹ hieß der alliierte Kontrollpunkt am Grenzübergang Friedrichstraße/Zimmerstraße zwischen amerikanischem Sektor und Ostberlin. Nun sind die Grenzanlagen lange abgebaut, doch der Name, militärisch codiert nach dem dritten Buchstaben des Alphabets — was würde F. Kittler daraus machen? — ist geblieben. Auch die kleine Wachbaracke, 1990 noch ins Museum nach Dahlem verfrachtet, kehrte zehn Jahre später als Nachbildung wieder an Ort und Stelle zurück, auf die kleine Verkehrsinsel zwischen den beiden Fahrstreifen der Friedrichstraße. Mit zum Ensemble gehören der hochaufragende weiße Fahnenmast mit fliegender US-Flagge, die hüfthohe Schutzattrappe aus präparierten Sandsäcken und die davor postierten Statisten, die als US-Soldaten verkleidet mit Touristen posieren. Auf Wunsch — und gegen 5 Euro — soll es (von den fake-GIs?) sogar einen DDR-Stempel in den eigenen Reisepass geben [1]*, was einen Besucher später peinlich berührt im Forum von weltreise-info.de hat nachfragen lassen, ob denn damit nun der Reisepass ungültig geworden sei, er plane demnächst über Dubai nach Neuseeland zu fliegen [2] — was würde M. Ferraris mit seinem ›Documentality‹-Konzept daraus machen?

Noch tiefer in die Simulation hinein, wie in die vorgeblich mit Zement befüllten Sandsäcke: Hallo virtuelle Welt! Die Konstellation wirkt so gut gerendert, dass ich unweigerlich an die Suggestionskraft von Cold War-Szenarien in »historisierende[n] First-Person-Shooter[n]« [3] denken muss. Prononciert wird die Verkehrsinsel ›Checkpoint Charlie‹ zusätzlich durch einen Leuchtkasten, der wie ein übergroßes Verkehrsschild den Verkehr teilt und nach beiden Richtungen das Porträt eines jungen Soldaten ausstrahlt. Die 1998 errichtete Installation erinnert im Stil an die Fotografien Wolfgang Tillmans (sind aber von Frank Thiel): der junge russische Soldat und sein amerikanisches Pendant geschossen wie junge Pferde, geladen/tänzelnd/verletzlich, herausfordernd auch und ganz schön grün in der Uniform. Die russische Seite muss man sonst auf den Gehsteigen suchen, bei den fliegenden Händlern mit Sowjet-Militaria im Angebot, was schon lange kein Abverkauf von Altbeständen mehr sein kann nur Retro-Neuware für die Schulklassen, die ihren bunten McSundae darauf kleckern — die Infotafeln sind bleiern. Der McDonald's grüßt mit dem Aufkleber »Sie betreten den amerikanischen Sektor« an der Scheibe. Gegenüber, an der Hauswand des Mauermuseums hängt eine ukrainische Flagge, unübersehbar und mit Solidaritätsbekundung inkl. Aufruf an Putin seine geopolitischen Ambitionen fahrenzulassen. Das ›Who won the Cold War?‹ erscheint heute nicht weniger unbestritten als im Entscheidungsmoment des Mauerfalls, doch faded der ›Sieg‹ langsam aus, gleich wie das end of history-Motiv. Wie in der letzten Einstellung eines Films verliert sich der Fokus langsam, entschwebt das Bild vom im Abbau begriffenen Grenzübergang in die globale Totale. In der ad acta-Rückschau, wiederum, werden die Konturen klarer und so zeichnet sich auch eine Geschichte des Checkpoints Charlie als Ort des ›Endes der Geschichte‹ ab; ein kurzer kairós zwischen Aufhebung der Grenze (und der Geschichte) und der geflügelten ›Rückkehr der Geschichte‹ in den 2000er-Jahren.

Vage vertraut ist mir das end of history-Motiv nur in seiner populären Perpetuierung, eine Verortung dieser Chiffre — im Sinne einer ›Topologisierung‹ des Endes der Geschichte — könnte nun einen eigenen Zugang legen, eben am ehemaligen Grenzübergang »für Ausländer«, wie der Checkpoint Charlie auch genannt wurde. Andere Orte — das neu entstandene Regierungsviertel, der Potsdamer Platz — mögen für diesen Versuch geeigneter erscheinen; auch würde sich natürlich das EU-Viertel in Brüssel anbieten, die architektonischen Entwürfe für das Ensemble des Espace Léopold hinter der Place du Luxembourg, heute aufgrund von Baufälligkeit schon wieder von längerfristigen Schließungen betroffen, doch damals im prä- und post-Maastricht (1992)-take-off der EU ein exemplarisches Abbild (Bauzeit 1989-1995) des Willens zur europäischen Integration. Dass diese in eine Krise geriet ist bekannt. Kann man vielleicht von der postmodernen Architektur auf einen damals univoken liberalen laissez-faire-Gestus postmoderner Spielart rückschließen, unter dessen selbstgewisser Ägide sich die Assemblage von Alt und Neu am Bau (und in verführerischer Voraussetzung jene zur EU, was schließlich in doing nachgeholt werden musste/wird, das ›fare gli europei‹) ereignete? Ging es nicht wirklich um diese ›Aufgehobenheit‹ im ›Ungefähren‹ der EU? Auch wenn der Gedanke einer fortschreitenden europäischen Integration verbreitet gewesen sein mochte, fällt es schwer retrospektiv irgendeinen drive von unten dahingehend auszumachen, nicht wahr? — Naja, das ist jetzt auch erstmal wieder eine ignorante, nur selbstgefällige Behauptung, die zu differenzieren und verifizieren wäre. Welche Bedeutung erfährt denn die EU in Philipp Thers Erlebnisbericht/Wirtschaftsgeschichte Ostmitteleuropas nach 1989 (Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, 2014)? Hier ist von der EU-Osterweiterung (2004) als einer »europäischen Vereinigung« [4] die Rede, in Analogie zur vorangegangenen ›deutschen‹, von der EU-Förderung, die erfolgreich soziale und regionale Ungleichheiten anging, aber auch von den politischen Misstönen und Ressentiments sowie vom Wandel in den Ökonomien einzelner Lebensrealitäten. Meine Frage nach der Bevölkerungsdichte eines ›EU-Gefühls‹ droht von retrospektiver Suggestion überformt zu werden, da doch die Akteure eine Gesamtsituation in progress erfuhren. Zurück zum Moment einer nichtwidersprochenen ›Aufhebung‹ der Quästion (wie aller Fragen) mit der Transponierung, der Verlagerung (als ›Entledigung‹) auf eine Metaebene, die sich nur leider mittelfristig als (noch) fiktiv, besser: ›entlegen‹, erwies. Wie bitte verhalte sich dieses postulierte Moment der ›Aufhebung‹ mit den Lebenswelten in progress? Beides ›währet‹ bis zum ›Knick‹ der Krise? Nochmal zur ›Aufhebung‹: ›Posthistoire‹, die ist gedeutet worden »als eine geschichtsphilosophische Form der kollektiven Selbstentlastung« [5], doch was bedeutet das im Einzelfall? Könnte hier von einer ›Aufgabe‹/›Aufhebung‹/›Aufgehobenheit‹ des Denkens des einzelnen als ›Rückfall‹ in sich/auf sich selbst gesprochen werden? Im Sinne einer apologetischen Absage an jeglichen kommunen Movens? ›Aufgehobenheit‹ in der Vereinzelung als ›Einschluss‹/›Preisgabe‹? Spekulationen!

Der Mainzer Historiker Andreas Rödder greift zur Charakterisierung der Postmoderne Zygmunt Baumans Formulierung von der »Zerschlagung der Gewissheit« [6] auf, und was war gewisser als die Sektorengrenze? In den ausgehenden Thesen seines Buches 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart (2015) umreißt er das Gebilde ›Postmoderne‹ mit den Begriffen »Pluralisierung« und »Dekonstruktion«, dabei letzterem die Idee einer »Kultur der Inklusion« als »neue[r] Ganzheitsvorstellung« beigebend (Rödder, 388f.). Wie wirkmächtig ›postmodern‹ der Autor selbst ›Geschichte‹ handhabt, ›autoritär/autoritativ/auktorial‹ Darstellungstränge aufzeigt/ausblendet, zeigt sich in seiner (vielleicht ›vom Kopf auf die Füße‹-)Appropriation Foucaults, den er zum wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts stilisiert, und schließlich, noch viel mehr, in seiner These des »Entschwinden[s] des 20. Jahrhunderts« (ebd., 387). Diese Zeitdiagnose entfaltet eine normative Schubkraft, insofern das unliebsame ›kurze‹ 20. Jahrhundert überbrückt wird durch eine Verknüpfung von erster (»Welt 2.0«, vor 1914) und zweiter Globalisierung (»Welt 3.0«, nach 1973). In diese apologetische Disposition fügt sich das Narrativ von der (Rückkehr der) »deutsche[n] Stärke in Europa« ein: »Und wie lautete die Bilanz einhundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges? Deutschland war wieder die bei weitem stärkste Macht in Europa.« (ebd., 386) Unweigerlich befördert dieser Versuch der Überbrückung, eines Wiederanknüpfens an ›verlorene Fäden‹ der Vorkriegszeit, eine gewisse ›Bypassierung‹ des ›Dazwischenliegendens‹ (1914-1973/2014), was die Perspektive eines ›Abschlusses‹, einer ›Aufhebung‹ aufzeigt.

»Geschichte in diesem Sinn beginne erst jetzt.« [7] Diese Perspektivumkehrung stellte der emeritierte Bonner Philosophieprofessor Wolfgang Kluxen der These F. Fukuyamas vom ›Enden‹ der Geschichte im ›Triumph‹ des Westens entgegen. Wobei dieser Konter klein ›skaliert‹ war, schwer zu finden in einer in indirekter Rede wiedergegebenen Wortmeldung auf der 366. Sitzung der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften am 16. Juni 1993 in Düsseldorf. Doch ›Geschichte‹ in welchem Sinne war damit gemeint? Kluxen konfigurierte hier »Geschichte im Rahmen einer Weltzivilisation« — was man heute vielleicht mit ›Globalgeschichte‹ gleichsetzen könnte — und nannte »Pluralismus« das vorherrschende Merkmal einer solchen. Unter ›Pluralismus‹ wiederum verstand er die Entstehung einer pluralistischen »Weltgesellschaft«, gerade auch in der Form einer globalen »Kommunikationsgemeinschaft, in der jedes Ereignis überall präsent gemacht werde.« In einem Aufsatz von 1994 explizierte er »Kommunikationsgemeinschaft« ferner als einen Modus, »welche[r] partikulare Besonderheiten zugleich freiläßt und in ihrem Wert bestätigt. Solche Kommunikation, als strukturelle Möglichkeit eröffnet, bedeutet einen geschichtlichen Schritt, der nämlich die ›Menschheit‹ — die Summe aller Menschen — geschichtlich konkret ins Spiel bringt, ohne doch die ›Freiheit‹ in der Mannigfaltigkeit ihrer Daseinsmanifestationen aufzuheben.« [8] Das klingt wie eine idealisierte Beschreibung des Internets, des Web 2.0. Konkret steht das social network vor Augen wenn Kluxen schreibt: »In der technischen Welt werden Identitäten nicht aufgehoben, sondern in Konkurrenz gebracht.« Der Pluralismus einer »Weltgesellschaft«, in der »unterschiedliche Identitätsbildungen zur Geltung kommen[, ...] gehöre zur Geschichte im Rahmen einer Weltzivilisation«, so Kluxen, »und Geschichte in diesem Sinn beginne erst jetzt. Die These vom Ende der Geschichte [aber] verkenne diesen notwendigen Pluralismus.« [wie 7]

Fukuyama, hingegen, imaginierte die ›Inhaltsleere‹ posthistorischer Verhältnisse, den ennui des »allseits abgesicherten, egozentrischen letzten Menschen« [9], der zu seinem Drang nach riskanten, aber »inhaltslose[n]« Freizeitaktivitäten führe (no risk no fun). Die wenigen Passagen seines Buches Das Ende der Geschichte (1992), die ich gelesen habe, wirken reaktionär-kulturkritisch, oft befremdlich, teils unfreiwillig komisch. So auch diese schöne Stelle: »Vielleicht besteht ein Potential an Idealismus, das nicht ausgeschöpft, ja nicht einmal angetastet wird, wenn man ein Unternehmer wird wie Donald Trump, ein Bergsteiger wie Reinhold Messner oder ein Politiker wie George Bush. Das Leben dieser Männer ist sicherlich nicht einfach, und sie erfahren viel Anerkennung, aber sie könnten es zweifellos noch schwerer haben und einer noch wichtigeren und gerechteren Sache dienen.« Ließe sich daraus ein Motiv für die ascesa in campo von Berlusconi und Trump (Messner ja letztlich auch, wenn doch peripherer) fabrizieren?

Ebenfalls 1992 entwarf der französische Anthropologe Marc Augé in Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité den Gedanken der ›Nicht-Orte‹. Er sprach vom »Tod der Zeit« [10] und davon, dass »der Raum den Sieg davongetragen [habe]«. Entfallen war die Funktion von ›Zeit‹ als Sinnträger, doch auch der Advent der Kategorie des ›Raumes‹ ginge letztlich mit der ›Zersplitterung‹ desselben einher. Die Prärogative des Ereignisses (breaking news) fand auch in Augés Text ihren Niederschlag, dachte er doch den medialisierten »Ereignisraum« als den global vorherrschenden. Auf den Checkpoint Charlie (hello again!) angewendet, lässt sich dieser durchaus als Ereignisraum im Ost-West-Konflikt bestimmen, etwa 1961, doch noch viel mehr scheint er heute zu einem veritablen ›Nicht-Ort‹ verblasst, jenem von Augé gewählten Motiv, das in der Adaption ebenso oft gefühlsmäßig zupasszukommen scheint wie jenes des end of history, ja so etwas wie ein hauntendes (nach Mark Fishers ›hauntology‹-Konzept) merry-go-round-Eigenleben entwickelt hat. ›Nicht-Orte‹ sind für Augé, kurz gesagt, »Orte der Passage und des Übergangs« [11], womit ein (ehemaliger) Grenzübergang doch tatsächlich ein non-lieu par excellence wäre. Das einzige was sich hier, in loco, noch ereignet beziehungsweise täglich begibt ist das Aufkommen, die Auffahrt der Touristen (als Wallfahrt) und ihre Aufführung des Dogmas der »Reisefreiheit« an diesem ›Nicht-Ort‹, der dadurch vielleicht zu so etwas wie einem Erinnerungsort wird und die Geste des ungehinderten Zu- und Abgangs zu einem ›gedächtnisvollen‹ enactment der »Reisefreiheit«, einer Freiheit, die nach Augé »zum Inbegriff der Freiheit [überhaupt] geworden [sei]«. Die Reisefreiheit ist die Freiheit des Touristen und in der Figur des Touristen manifestiert sich der (temporäre) »Verlust der Territorialität«, insofern der Tourist derjenige ist, der nicht arbeitet, der nicht ›ackert‹, der nicht alttestamentarisch mit dem Boden verbunden ist. Man müsste einmal jene fragen, die an diesem ›Nicht-Ort‹ ›Checkpoint Charlie‹ täglich arbeiten. Gelingt jenen eine sinnvolle Verbindung mit diesem Ort?

»Berlin is the perfect city in which to contemplate an alternate Western reality. This is the logical result of losing back-to-back world wars before enduring another 45 years of the most repressive police state ever created« [12]. So stand es letztes Jahr in einer Pitchfork-Reportage. Dem Ort ›Berlin‹ wurde hier die Qualität eines systemfernen, alternativen ›Möglichkeitsraums‹ zugesprochen. Ich würde diesen Gemeinplatz anzweifeln wollen, jedenfalls scheint diese Qualität keineswegs auf den Checkpoint Charlie zuzutreffen. Dieser wirkt doch eher wie ein müdes, ›brachvolles‹ Memorial seiner selbst und des vergangenen kairós nach dem Ost-West-Konflikt, der Verlust einer Qualität eines Ortes, sei es jene des ›Ereignisraums‹, sei es jene des alternativen ›Möglichkeitkeitsraums‹, bis zuletzt nur noch jene ›Nicht-Qualität‹ des ›Nicht-Orts‹ übrig bleibt, wie in einer tristen, schleifenden Zeitschleife.

In der Adventszeit ›prorompiert‹ zusätzlich ein großer Weihnachtsbaum von der Verkehrsinsel. Wie ein Plakat an einer nahen Hauswand andeutet (das noch aus dem letzten Jahr stammt), wird dieser wohl alljährlich feierlich vom amerikanischen Botschafter eingeweiht bzw. angeknipst. Bewegung: Touristen verleitet zum gefahrvollen Gang vor den Verkehr der Friedrichstraße; ist der Verkehr, das Ballett der Doppelkreuzung Friedrichstraße/Zimmerstraße und Friedrichstraße/Kochstraße bzw. Rudi-Dutschke-Straße nicht die eigentliche Qualität dieser Lokalität, eben die Reise- und Verkehrsfreiheit — da ist diese eine Ampel, die die Fußgänger diagonal über die Kreuzung führt, was eine Sache! Tokio! —, miteingeschlossen die (kontingentierte) Freiheit des Datenvolumens in den immergleichen Bildern in die cloud von diesem ›Nicht-Ort‹? Und die globalen Apps sind auch ›downgeloadet‹ in die Ladenzeilen in Form der Franchise-Filialen globaler Unternehmen, die sich um das Wachbaracken-Replikat gruppieren: neben McDonald’s etwa Kentucky Fried Chicken, Starbucks, Domino’s Pizza, Murphy’s Irish Pub, Coffee Fellows und Kaffee Einstein. Eine Vertretung des westlichen Kapitalismus, platt gesagt, ist dieser ›Nicht-Ort‹ ›Checkpoint Charlie‹ also auch, mit dem Charme eines Outlet-Villages. Noch dazu mit Marken, die ihren Zenit bereits hinter sich zu haben scheinen.

Interessant ist vielleicht der Aspekt der amerikanischen coffee shop-Kultur und ihrer Adaption hierzulande mit den Marken Coffee Fellows (1999 in München gegründet) und Kaffee Einstein (»Bereits Mitte der 90er Jahre erkannten wir, welche Zukunft der in den 80er Jahren in den USA entstandene Coffee Shop-Trend im europäischen Raum haben würde« [13]). Dahinter: Die leisure-luzide Kultur, die von Seattle ausging, als Paarung von Westküsten-Gegenkultur mit Silicon Valley-Soft- und Hardware für die Welt, handheld — in der einen Hand das iPhone, in der anderen den Pappbecher. Indoor: Das Arbeiten im coffee shop, da man (freelance) keinen eigenen Arbeitsplatz hat, also den coffee shop als workspace okkupiert mit seinem eigenen Laptop. Eine lose Reminiszenz an die prekäre Existenz von Kaffeehausliteraten und -revolutionären im fin de siècle. Das Kaffeehaus (oder das Lokal) als der Ort der Schlafgänger, für die die Schlafstatt nur ein Durchgangsort war. Das Kaffeehaus als Inkubator. So heute coffee shops an Transitorten, die das ›immer auf dem Sprung‹-Sein zelebrieren, in Bahnhöfen, Über- und Unterführungen, malls, an Airportterminals, Raststätten. Die Ambivalenz von cosy und busy, das stoßartige (koffeinshotartige) Performen, alles vor dem Hintergrund — neben der räumlichen Situation des Zwischenraums — von allverfügbarem WLAN/Internet, der sicheren Aufhebung (in der cloud/crowd). Transportiert wurde das schon in größtenteils indoor gedrehten Serien wie Friends, in denen die urbane Metropole immer nur ein unterbewusster backdrop war, den man aber in den Szenen in der WG und im Café spürbar fühlen konnte, diesen notwendigen Hintergrund, diese Evokation. Was war denn Koffein früher? Ich denke an Filterkaffee in beschichteten Styroporbechern in der Haltevorrichtung am Armaturenbrett, an Pocket Coffee und nikotinfarbene Finger, die Nescafé-Portionssticks aus Flanellhemden fingern, Wegzehrung von übermüdeten Fernfahrern. Letztlich westlich-vorherrschend war doch aber sowieso ›Coca-Cola‹ in puncto ›Koffein‹ und nicht der Kaffee, oder?

Da, wo heute eine Einstein-Filiale liegt, im schönen Eckhaus an der Kreuzung Friedrichstraße/Zimmerstraße, war zwischen 1989 (vielleicht auch schon etwas früher) und 2008 das Café Adler drin. 1987 hatte das Land Berlin das historische Gebäude renoviert und die oberen Stockwerke zu Ateliers und Wohnungen für Künstler ausgebaut, der letzte zog wohl erst 2005 aus. [14] Das Café Adler selbst machte im Juni 2008 dicht, als der neue Eigentümer das Haus anscheinend sanieren ließ, jedenfalls ist auf der Google Street View-Aufnahme vom Juli desselben Jahres das Baugerüst deutlich zu sehen, das Café hingegen schon nicht mehr [15]. Dass an der Friedrichstraße, vis à vis der Wachbaracke, tatsächlich einmal Cafégäste auf dem Gehweg an Tischchen saßen, erscheint heute schwer vorstellbar. Dann wäre es ja ein Ort! Nun, das war es (als Ereignisraum!) in der Nacht der Grenzöffnung, als, so heißt es, ein Kellner mit einem Tablett voller Sektgläser die Kontrolleure auf der anderen Seite angesteuert habe, diese aber wenig erfreut gewesen seien. Fortan galt das Café Adler als ein Symbol des jungen, aufregenden Berlins: »Der Fall der Mauer riss das Adler jäh aus der Schläfrigkeit der müden Weltverbesserer, und kurzfristig wurde das Kneipencafé mit den kleinen Marmor- und Holztischen ein Versuchsfeld der Einheit. Durch seine bloße Existenz an diesem magischen Ort entwickelte es eine kolossale Integrationskraft. Von Kreuzberg und Mitte her balancierten Leute über die deutsche Trennlinie aufeinander zu, gingen auf Tuchfühlung, debattierten Schicksalswende und Lebensentwurf und begossen die neue Hoffnung mit Apfelschorle.« [16] Nach der Jahrtausendwende wandelte sich das Lokal zu einem letzten Außenposten inmitten eines sich verändernden Stadtpanoramas, zu einer »Loge mit Blick auf einen räudigen Jahrmarkt der Geschichte« [17]. 2004 traf der Telegraph hier Cathy, eine aufgeregte Amerikanerin mit Zungenpiercing (was damals noch eine zweifache Erwähnung wert war), die Berlin als »a happening place« beschrieb und weiter: »People here are excited by change, by experiment. It is a city in flux, a city without boundaries.« [18] Well, could it possibly get any more postmodern than this? Any more ›Posthistoire‹? Als das Café Adler schließlich schloss, unterschied die französische Berlinkorrespondentin Pascale Hugues im Tagesspiegel klar zwischen dem Café — »Das Café Adler ist ein wahrer Ort des Kalten Krieges, ein Museum, 1000-mal authentischer als der ganze kitschige Krempel auf dem Gehweg gegenüber.« — und der Umgebung — »Es gibt Orte, die werden ihrer Geschichte nicht gerecht.« [19] Früher, hingegen, da »kippte man [am Checkpoint Charlie] in eine andere Welt«. Auch der Kellner selbst kam in diesem Abgesang auf eine Lokalität zu Wort: »Der Kapitalismus kennt keine Gnade. Wir sind nicht mehr von dieser Welt«. Das hat er wirklich gesagt!?

»I came for nostalgia«. Mit welchen Erwartungen Touristen an diesen ›Nicht-Ort‹ kommen verdeutlicht ein Eintrag von »Kevin D« aus »Maple Ridge, Kanada« auf Tripadvisor. Unter dem Titel »Cafe Adler is, sadly, no more!« schrieb er dort vor einem Jahr (in Form einer Bewertung über das Nachfolgelokal Kaffee Einstein): »Imagine an old fashion Europeon Coffee shop. Imagine two rooms filled with wooden tables and an eclectic mix of chairs. The shop is a smoky place with yellowed windows from decades of cigarette smoke and coal spewed out from the heater in corner of the room. Looking out the window one sees wet streets with barb wire and shadows of the guards in trench coats holding riffles. The cloak and dagger days are over, the Cold War atmosphere is long gone. I came hoping to see secret agents taking shots of vodka looking out the window. Sadly, there exists a modern day expensive busy coffee shop. The character is very different form years ago, it is however safer and probably family friendly. I came for nostalgia.« [20]

Die Mauer ist verschwunden. Zwei verlorene Mauerteilstücke stehen für Fotos bereit, der Zwischenraum ist freigelassen, damit sich die Touristen zwischen die beiden Teilstücke wie zwischen zwei antike Säulen stellen können. Die apertura des Café Adler könnte als Aufscheinen einer Möglichkeit gedacht werden, der dem Anschein nach leichtfertige Übergang des Gebäudes in Privatbesitz 2002 als Ende eines verheißungsvollen Modus des Endes der Geschichte, als Geschichte der leidigen Lokalität ›Grenzübergang‹, als Ende des Kalten Krieges, Wegfall der Grenzen, ein revival (letztlich bloß als Marx'sche ›Farce‹?) eines ›Schaut auf diese Stadt!‹-Berlins. Heute hat der Checkpoint Charlie höchstens noch eine Spur nostalgischen Charakters, wie der Ruß auf den Plakaten und Schautafeln. In der Gegenrichtung, das kurze Stück der Mauerstraße zwischen Friedrichstraße und Schützenstraße sieht aus wie ein Straßenzug aus einer Kulissenstadt für einen Filmdreh, unecht. Die Friedrichstraße weiter hinunter steht das Russische Haus, baufällig, mit Fangnetzen vor der Fassade. Das, was jahrelang Brache war im ehemaligen Grenzstreifen, füllen heute pop up-Blasen wie die Panorama-Ausstellung The Wall, die mit Sprüchen wie »Discover the Berlin Wall on a fictitious day in the Eighties« beworben wird — Baudrillard hätte vielleicht seine Freude an derlei Simulationen. Auf der anderen Straßenseite steht mit einem »Öffentliche[n] Münzfernsprecher« unbeachtet ein greifbareres Relikt vergangener Zeiten. Pick up the phone, dial H-I-S-T-O-R-Y (1997, Regie: Johan Grimonprez), and see: Tomorrow Never Dies (UK 1997, Regie: Roger Spottiswoode).

* Zum Eintrag mit Anmerkungen hier.

2017 Oktober 18
kadenzen

Fun Times
Iamdudum in Portugal (1911)
—|- cadenza, Kadenz, Kamenz (Sachsen)
»Avec Conviction Et Avec Une Tristesse Rigoureuse« (Erik Satie)
»Largesse«, sagt Don Johnson.

Namen aktueller Fahrzeugmodelle des südkoreanischen Autoherstellers Kia Motors: »Bongo, Borrego, Cadenza, Carens, Carnival, cee’d, Forte, Granbird, K2, K4, K5, K9, Lotze, Mohave, Morning, Niro, Optima, Pegas, Picanto, Quoris, Ray, Rio, Sedona, Sorento, Soul, Sportage, Stinger, Stonic, Venga, Visto«

Postmodernes Pastiche-Dispersiv-Dispositiv: aleatorisch-akzidentielles Kleiden. Ortstermin Berlin-Tegel, Ankunftshalle: Bei Reisenden aus C. und A. (und anderen natürlich auch, siehe Julian Nagelsmann) zeigt sich irr-zufälliges, rekombinatorisches Ankleiden, die Socken so, die Jacke und die Tasche umgehängt, unbewusst-postbewusst (postcare).

thankfurlly as in »The point immediately interesting to us is that the pedestrian may thankfurlly avoid the Curl by taking a footpath which, tart ing at thle ptilo near its western 4nd, atr'ihe across in a south-easterly direction and re joins the road some half mile further on. [...] One moment he was sta- tionary, the next .he was moving at. great speed in the direction of the ulnheeding slongstress. Yet it is obvious that eve, had lhe been a ten-seconds man. whidh :he was not, and unencumbered with rile alnd aceoutrelnen.ts, he could barely have ex ceeded twenty niles an hour, w;hereas the express, gathering speed elach mnoment, was approaching sixty; so thmt, for o cah yard he covered the train coveorcd thlre, and most likely more.« Das Resultat der Texterkennung über Seite 46 der Ausgabe der Melbourner Wochenzeitung Leader vom 10.07.1915, emphasis added.

»Mein Arm ist nicht von dieser Welt.« (P. W.)

›Fitzgeraldo‹ könnte ein Lokal heißen, oder ein Drink, ein Clubsessel, wie auch immer — ich hab den Namen dann gegoogelt und er führt zum Voice of Germany-Kandidat Koko Fitzgeraldo, sad. Neue Idee: KFOR als Franz Ferdinand-Nebenprojekt. Ein Pianist im ›Fitzgeraldo‹ spielt KFOR-Klassiker (und repariert das Grammofon). Es folgen: Die ersten Bilder von Probebohrungen mit Novalis auf dem Monte Kali (lieu de mémoir), Regie: Bernhard Sinkel.

2017 September 30
herbstlicht
literaturen

Durchdringende, tiefstehende Herbstsonne, zwei goldene Tage. Wie ein frisches Bier im Gegenlicht, perlt das Herbstlicht noch parterre. Anreichern, kutan anreichern lassen. Durch die Lider, auf den Händen. Ich kann bis Bengasi blicken.

Gestern Abend vor dem Kafka-Stück am Deutschen Theater, in der Einführung, fiel die Anekdote: Kafka, von Max Brod zur Rede gestellt, sagt dahin: »Doch, es gibt Hoffnung. Es gibt unendlich Hoffnung. Aber nicht für uns.«
Aber es gibt sie. Sie ist nicht verfügbar, nicht zu haben; sie ist, ohne da zu sein. Nach der Endlichkeit, ansinnenfrei. Riten wie Beten ohne Adressaten.

Quietismus
Dostojewski, Der Idiot Wir alle sind lächerlich gute Menschen (379) Es gibt Ideen, erhabene Ideen, von denen ich nicht reden darf, denn ich würde gleich alle zum Lachen bringen (450)

Disruption ist auch eine Reise ins Nichts
»Ich ging zurück in die Legion, in die Südsee, und schaute dort vielleicht ein paar Mal zu oft in das gleissende Licht der Explosionen.« Die gestörte Stille, troubled.

2017 September 23
neukölln
frühherbst

War eben Laufen. Das Estrel leuchtet nicht mehr tajmahalleicht in der Abendsonne. Nun leuchten nur die großen Leuchtreklamen von McDonald's, von Auto-Teile-Unger über dem leeren Parkplatz. Diese dunklen, nasskalten Jahrestage, die jetzt anbrechen, die Nacht immer früher. Ich laufe vorbei an Passanten, denen die Displayhelligkeit ein Leuchten ins Gesicht wirft unter der Kapuze. An erleuchteten Fenstern, der Leuchtreklame an der Bushaltestelle. Regentropfen am Rand der Windschutzscheibe angeleuchtet. Besinnung, Einfinden, Licht aus, Regen auf das Blech vor dem Fenster, Lauschen. Die Weite kommt nun aus Büchern, im Fernsehen. Der Mensch wird zu Schmelzkäse. Am Anfang riecht das alles recht frisch und erdig, wie frischgefallenes Laub im Wald, doch späterhin, ich weiß schon, wird das noch ranzig. Aus Melancholie-La-Lie-Geklimper (wow, ein Klavier, es klingt wie ein Klavier, wie schön) dann Melankolik, malign. Ich habe heute morgen vor dem Küchenfenster eine Krähe krächzen hören.
Der Shift zwischen Indoor- und Outdoor-Jahreszeit, zwischen weitem Himmel und dunkler Gemütlichkeit, Displayleuchten in der beschlagenen Fahrzeugkabine auf dem nur fast leeren Parkplatz vor dem geschlossenen Auto-Teile-Unger, der Abschied vom Frühsommer zum Frühherbst, kommt hier illustriert an zwei Musikvideos von Real Lies: Die ›Dab Housing‹-Grillparty auf einem Londoner Dach (naja, Londoner Sommer) und die vibes von Grillschwaden, Sneakers, Dosenbier resp. die Indoor-Club-Beats von ›North Circular‹, im Regen, Rücklichter, Nacht, ja ›Deeper‹ auch.

2017 September 22 | 23
kurzkritik
theater

Gestern Abend lief in der Schaubühne Zeppelin, »frei nach Texten von Ödön von Horváth«. Viel Volksbühnen-Exaltatösengeste, Bimbamboing und Gekreife. Blieb aber, trotz einiger Dribbelversuche, ein müder Kick. Ein flacher Abend, denn zu denken gab das alles wenig, bisschen Akrobatik, bisschen Komik und ein paar aufmunternde Worte ins Publikum. Die Montage der übergroßen Zeppelinkonstruktion auf der Bühne war noch die größte Leistung. Die erinnerte an die Szene mit den Stahlgerippen am Ende von Fellinis 8 ½. Und in der schönsten Szene hier, ebenfalls der letzten, da schaukelten die 8 schweigend im schwebenden Zeppelingerippe bis vereinzelte Anläufe zum Applaus sie da wieder runterholten. Gräßlich waren nur die Töne, ein Tinnitus-Gefiepe im Hintergrund wie aus einem cheapen Mystery-Clip. Selbst in der US-Botschaft in Havanna mag es noch erträglicher gewesen sein. Man hätte die Verstrebungen des gestammelten »Zeppelin« lieber mit Eisenstangen, blanker Wut, Gerüttel, Knochen und Rost im Zeitraffer beschlagen sollen!

2017 September 19
abdichtungen
worldcutlrue
amelioration

Wolrd Culture
World Cutlrue
WOlrd Culture
Wolrd Cutlure
World utlrue
World Cultru
World Cutlrue
World Culture
World Culture
World Cutlreu
Wolrd Culture
Wolrd Culture
World Culture


Diese Folge greift die Fehlschreibung/misspelling-Thematik auf und fragt nach Perspektiven aus Fehlern, aus Dispositionen und Abänderungen, versucht die Tangente um und durch die Norm vorbei. Was kann ›World Culture‹ sein? Beim Schnellschreiben auf der Tastatur ergeben sich manche Fehlkombinationen immer wieder. So wird aus ›culture‹ meist so etwas wie ›cutlrue‹, nahezu ›cutlery‹ (›Besteck‹, als unterbewusster Hinweis auf die Materialität von Kultur). Was könnte ›World Culture‹, ›Weltkultur‹, also heute sein? Ich denke an die heutige Generalversammlung der Vereinten Nationen, an das Auffächern eines Begriffs in mehrere Facetten wie Sitzreihen in einem Plenum, an die anstehenden Hochrechnungen der Sitzverteilung im Deutschen Bundestag in einem Halbkreisdiagramm und den zu erwartenden Überhang und das Reden von Rändern. Bei ›Weltkultur‹ an ›Weltmusik‹ und an den Track ›World Peace‹ der Londoner Real Lies. Wieso wäre es zynisch, wenn ›All You Need Is Love‹ in der Politik, im Plenum der UN-Generalversammlung erklänge? »Elemente der Liebe stehen im Raum«, sang Veronika Ferres am Samstagabend im Ersten. Stehen nicht auch hier Elemente der Liebe im Raum? Politische Elemente der Liebe? Elemente der Politik, politische Elemente, »ich liebe meine Frau« (Gustav Heinemann), die Tagespolitik. Martin Schulz fand im Kanzlerduell die wunderbare Wendung: »Verliebt ins Gelingen«. Wem ist es daran Verbesserungen zu fordern? Was wäre das für ein Zeichen, wenn eine Arbeitnehmergruppe kein Lohnplus, sondern eine deutlich sichtbare Einbuße einfordern würde? Wäre das auszudenken? Die Frage »Leben wir so gut, weil die anderen so schlecht leben?« hat Ingo Schulz in der SZ von gestern aufgebracht. Abends lief dann in der ZDF-Mediathek die Doku Ohne diese Welt über vergessen lebende Mennoniten in der argentinischen Pampa. Der Wechsel zwischen alt-dialektalem Deutsch und Río-de-la-Plata-Spanisch in den Interviews hat seinen Reiz. Das ist wie zwei Variationen über ein Thema von ›World Cutlreu‹. »Weltmenschen« heißen bei den Mennoniten die Auswärtigen. Was ist das schon: Amelioration? Der, der agevolazioni fordere, solle erstmal einen Arbeitstag lang einen Paketzusteller begleiten und ihm alle Türen aufhalten.

2017 September 13
literaturen
lesung
frankwitzel

Gestern Abend las Frank Witzel im Haus der Berliner Festspiele aus seinem neuen Wälzer vor. Direkt danach und kurz davor bezieht sich auf die bundesdeutsche Nachkriegszeit wie Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969, der Deutsche Buchpreisträger von 2015, auf das Aufwachsen im Wiesbaden der Sechziger. Erzählweise und das Zu-Erzählende sind also bekannt: die subkutan-kontinuierlichen Befindlichkeiten mit Einbildungen und Einschüssen zwischen Kriegsende, -traumata und neuem Wohlbefinden.
Ein Mann am Fenster, die Figur des Beobachters, habe als Ausgangsbild für den Entwurf des Romans gestanden, so Witzel. So steht im Roman ein Mann mit Namen Siebert am Fenster, in einem kulissenhaften Stadtentwurf, der sich nicht entfaltet, sondern immer wieder rückgefaltet und gewendet wird. Abläufe und Ereignisse werden genannt und wieder abgewandelt, nonlinear und rekombinatorisch-aleatorisch. Es sammelt sich keine Sukzession, wird keine Konklusion gewiesen, nur wieder zurückbaubare Akzidenz. Das Bild des Beobachters hinter dem Fenster auf die Geschehnisse auf der Straße reminisziert Thomas Mann angesichts der Münchner Räterepublik oder Gottfried Benn im Berlin der Nachkriegszeit. Witzel geht es, nach eigener Aussage, um einen »gefühlsmäßige[n], stimmungsmäßige[n] Zugang« zur Geschichte. Er sei interessiert an einer »über ein Verschweigen kommunizierten Erinnerung«, wie er im Gespräch auf dem Podium einblicken ließ. Was die Erzählform angehe, so folge sie dem Prinzip von Nichtordnung innerhalb einer strukturierenden Gesamtordnung. Das »Narrativ« werde nicht entsponnen, sondern durch abrupte Kontextsetzungen jeweils (jäh) beschnitten, als Ausweis einer »fragenden« Haltung. Fraglich, ob sich hiermit eine Unsicherheit in Bezug auf das Vergangene ausstellt, das im Buch teils leitmotivische ›Irrgehen‹, oder eine ennuierte Geste des Verwischens. Typisch, so der Autor, sei für seinen Erzählstil auch ein hin und her von »Abstraktem« und Umschlag ins »sehr Konkrete«. Unspezifisch sei der Ordnungsverlust zu Beginn der versatzstückhaften Handlung (»könnte vielleicht auch nach dem Ersten Weltkrieg sein«, so Witzel). Ein »Unzeitigkeitswunder« (213)!
»Sigmaringen« (52) ist dann natürlich einer dieser Signalbegriffe, die zur zweiten Nachkriegszeit hindeuten. Dabei auch an Célines Schilderungen in Von einem Schloss zum andern denken lassen, den Bahnhof, Gasthof und den Wirrwarr. Gibt es hier nicht auch eine Gefahr, dass dieses ›Dräuende‹ neurecht empfindsam werden könnte, getragen durch das katholische, popular-frömmige Erzählgepräge? Tobak: Ein dritter Teil würde dann die beiden Romane von 2015 und 2017 in einem Rahmen von Marpingen 1876/77 über das Schon-Erzählte weiter über die Wehrsportgruppe Hoffmann in neurechte Gefühlsgefilde ausklingen (Schnellroda) lassen. Doch Witzel ist schneller und besser, wenn auf Seite 230 die Variante eines »MSU (Marga-Siebert-Untergrund)« ausgeschlossen wird. Und Witzel ist ein guter Vorleser. Ich bin auf Seite 238 und lese weiter, habe nun aber parallel Volker Weiß' Die autoritäre Revolte angefangen, als brachial-provokante Re-Kontextualisierung aus dem Buch heraus sozusagen.

2017 August 29
berlin

Vor der nordkoreanischen Botschaft, im Schaukasten, hängen Propagandabilder vom »erste[n] Probeschuss der interkontinentalen ballistischen Rakete ›Hwasong-14‹«. Die großformatigen Abzüge mit weißem Rand erinnern an herausgetrennte Seiten aus dem VICE Photo Issue, dem Greif und anderen Fotomagazinen, mit schöner Farbgebung und Wolfgang Tillmans-Ästhetik. Ein dunkles Projektil vor blauem Himmel und grünen Hügeln, ein rotes Flammenband unter sich. Zusammengehalten wie durch ein unsichtbares Verbindungsstück, da der Ausstoß erst in etwas Entfernung vom Triebwerk eine Farbgebung erhält. Steil empor wie eine Mittelmeer-Zypresse. So eine statische Perfektion und Ruhe ausstrahlend. Nur die aufwirbelnde Sand- und Staubwolke scheint weiter zu wachsen in der Ausdehnung in der Breite. Im Abfotografieren der Aufnahme im Glaskasten spiegeln sich die parkenden Autos in der Glinkastraße im Bild und ein SUV wird eingenebelt von der braungelben Wolke. Mit dem Auto im Bild sieht es gleich nochmal mehr nach Tillmans Fotobuch The Cars aus.
Auf der Rückseite des Botschaftsgebäudes steht ein Basketballkorb mit NBA-Aufkleber am Brett. Parkplätze sind zur Vermietung ausgewiesen. Auf dem Ziethenplatz duften die Rosenbeete. Ziethen trägt eine große Mütze, der Ullrich-Schriftzug des Supermarkts einen übergroßen, roten i-Punkt.

2017 August 13
neukölln

Das Estrel ragt auf am Neuköllner Schifffahrtskanal zur Sonnenallee hin, gleich wie ein Taj Mahal.
Gestern Abend sah ich wieder einmal die Abendsonne glänzen auf seiner Fassade, vom Außenbereich des McDonald's aus, den Blick hinüber. Die grünen Zweige der Büsche hinter dem Bauzaun, im Brachland, wippten wie Palmwedel, der Himmel blau, schon leicht abgedunkelt, die verspiegelten Fenster bronze schimmernd. Alles war wie Urlaub. Diese Weite zwischen Brache und building, wie das Flussbett des Yamuna; zum Überflug über staubige Brache, Bauzäune mit dunkelgrüner Plane, spärlichen Büschen, hellen Betonfundamenten im Sand und aufgestauten Wasserbecken, wie das Bassin auf die Grabanlage zu. Der Keil-Bau, in der Seitenansicht das Bild eines Schiffes, liegt aufgebockt im Trockendock, unfassbar nah wie die Costa Concordia, wie ein startbereiter Sternzerstörer mit der Nase eines AT-ST und dem Rumpf eines AT-AT, darüber in Leuchtschrift das Estrel-Logo in der Typografie des Schriftzugs eines Autobahn-Casinos. So plumpe Formen und doch scheint es zu schweben, zu ›floaten‹. Die Brache um die Arche ringsum und der Kanal schaffen prospects von Anschluss und Ankunft, von Ferne, Weite, Ablegen, Abheben und Überfahrt. Das so von weitem zu betrachten, ist schon wie Urlaub, wie selbst an der Reling stehen und ins glitzernde Fahrwasser zu blinzeln.
Weiter die Sonnenallee stadtauswärts, vorbei an Romano, der hier Shots für sein müdes ›Mutti‹-Video einfängt, da war ich weiter oben schon, vor dem Kaktus, an Better Person vorbeigeradelt; der saß immerhin nur da und trank sein Bier. Die Brücke über den Britzer Verbindungskanal, wo die Straße schon Südostallee heißt, ›flared‹ es wie Krombachers »Perle der Natur«. Von rechts wummern Technobässe aus dem Waldstück, links liegt das Krematorium. Die Laternenpfähle schmücken Wahlplakate: Eine »Bürgerrechtsbewegung« mit Mainzer Vorwahl wirbt für die neue Seidenstraße (»Die Zukunft Deutschlands ist die neue Seidenstrasse!«). Ist das der lange Arm Chinas, der auch in Schöneweide plakatiert? »Volksverrat« wurde ein paar Laternenpfähle weiter über ein Gysi-Porträt gekrakelt. Zurück, wieder über die Brücke: Paare parken, leinen den Hund an und trotten in den Wald ab.

2017 Juli 29
filmkritik
dunkirk

Dunkirk wirkt wie eine überlange Werbeschleife für ein schon überholtes Computerspiel aus der Battlefield- oder Call of Duty-Serie; ein Film, so entäußert wie Vaporwave, der bestenfalls ein abstrakt-postintentionales Eigenleben entwickelt, der archetypische Flop, wie Kevin Costners Waterworld, der vielleicht in einigen so wirklich blunt-schlechten Szenen schon den eigenen Umschlag ins Ironische exekutieren mag. Da ist keine Erzählung, kein plot, kein Stoff, kein Ausdruck, keine ›Idee, die, à la Inception, einmal eingepflanzt, dann fortsprießen kann‹, sondern nur Bilder, ästhetische stills wie aus einer Werbekampagne für ein schönes Modelabel. Die Bildabfolge ist erratisch-elliptisch, die Regie steht einem ZDF-Kriegsdrama nicht nach. Es offenbart sich geradezu monströs ein Unwille, ein Nichtwollen des Regisseurs.
Wo die res cogitans abschaltet, will die SZ zumindest einen »Großangriff auf die Sinne« erkennen. Stimmt, mir dröhnen noch die Ohren vom Heulen der deutschen Sturzkampfbomber und den satten Schüssen aus dem MG-Magazin. Es ging ja auch gut los mit der Anfangsszene von versprengten Soldaten in verlassenen Straßen, plötzlichem Beschuss und Flucht über eine rosenberankte Mauer in einem Hinterhof. Auch die Jagdfliegerszenen sind beeindruckend, die sich neigenden Cockpit-Einstellungen, die letztlich aber auch nur auf videospielbekannte Simulationen zu rekurrieren scheinen.
Vielleicht sollte der Regisseur beim nächsten Mal einfach wieder mit Schauspielern arbeiten (und mit dedication). Hier sind nur hübsche, verwuschelte Boys zu sehen. Da war Josh Hartnett in Pearl Harbor noch eindringlicher. Überhaupt nähert sich die Farbskala der nostalgisch-übersaturierten eines ›Holding Back the Years‹-Englands von Simply Red, zumindest in den nichtkombattiven Szenen. Diese fahl-erdigen Oliv- und Grau-, entkernten Brauntöne der Figuren bei Dunkirk, die doch zum Standardfilter des Kriegsspiels gehören, siehe zuletzt Fury, auch melodramatisiert-kontrapunktiert (à la ›Holding Back The Years‹) bei Pearl Harbor vom roten Kleid von Kate Beckinsale, der sunset-Ballonseide der Fallschirme und der überzeichnet-flatternden Wäsche im Wind, werden hier, bei Dunkirk, in die Weite gedehnt, deckungsgleich komplementiert vom Grau der Kriegsschiffe, Graugrün(blau) des Meeres und dem fahl-abgedunkelten Strand, was gut werden kann. Immense Momente, wie der Erschöpfung am Strand, setzen sich aber nie ganz ab, nicht gegen den Überstand an biederer Verve, biederem Pathos wie abgestandenes Bier. Den score von Hans Zimmer dann als »subtil« (SZ) zu bezeichnen, ist mehr als lachhaft, kennt er doch nur ein Register, das über alle Einstellungen rollt (ein Loop unter allen Schnitten durchgezogen).
Wie die Soldaten dann am Strand von Dunkirk queuen, als warteten sie auf den Bus, hat eine unfreiwillige Komik. Frauenfiguren sind bis auf zwei, drei flüchtige Momente komplett absent und diese sind dann so stereotyp (Krankenschwestern), dass die nicht im Bild zu sehenden wohl komplementär alle zuhause am hoffen, pie backen oder diggen for victory sein müssten. UKIP-glory? Immerhin, danke auch, sind die englischen Soldaten damals doch wieder auf den Kontinent zurückgekommen!

2017 Juli 17
schaukelstuhl

Geschwungen zwischen Duke Ellingtons und John Coltranes Sentimental Mood und Better Persons Sentiment, wiegt das Argument wie eine Hose im Wind (»Die Menschen sanken um wie Hosen«, Platonow, Die Baugrube), wie eine lazy fire hose, fächert Glut und Rauch den Sternen müde zu. An damastnen Lichtern vom Balkon baumelt es die Bilder (Duke Ellington - Montreal 1964) über die Klänge fingerweich wie Motten; see I don't need nobody/To tell my troubles to. Wobei: »In Großschönau in der Oberlausitz wurde 1666 erstmals in Deutschland Damast gewebt.« — Flaubertweich le posture (postulanti) delle educazioni sentimentali (la pubblica istruzione, al banco di scuola), ovvero, meine Erziehung zur Unfähigkeit. Lascio, floscio, svago: Oblomov in love; »stava immobile sul divano, col busto un po' girato, un ginocchio ripiegato, l'altra gamba distesa e stringeva un cuscino sotto l'ascella.« (L'educazione sentimentale, a cura di Giovanni Bogliolo, 307) Also war das 19. Jahrhundert noch nicht das des Aufrecht-Sitzens, im Büro, am Bürotisch, der Angestelltenkabinen in Jacques Tatis Playtime und der Matrix, der Dienstleistung, der Bürokratie? Kein seitliches Lehnen, kein Etruskisches Liegen, keine Chaiselongue, keine Liege auf dem Zauberberg? Auch Franz Ferdinand starb wie er gebettet, auf einer Chaiselongue, am 28. Juni 1914 in Sarajevo. Starb auch Julie Récamier 1849 zu Paris an der Cholera auf einer Récamière? Dann hätte eine solche in der Bibliothèque nationale (rue des Petits-Champs) stehen müssen, wo man doch eher aufrechte Holzstühle an Schreibtischen erwartet, mit Leselampe und curven Besuchern. Oder alle gereiht, wie von Fritz Lang, im Korsett-Gestell zum aufrecht sitzen wie Major von Rauffenstein in La Grande Illusion, dem dadurch das Ottocentesche Lehnen und Liegen verwehrt ist. Heute, im Grimmzentrum, stehen vereinzelt rote Sitz- und Liegemöbel, die die Chaiselongue als Ruhebett reminiszieren: »Es [das Ruhebett] dient einer kurzen Liegerast am Tage oder als provisorische Schlafstätte.« Auch als »Ottomane« bezeichnet, als lit de repos en ottomane. Vor sechs Jahren in der Münchner Kunsthalle die Ausstellung Orientalismus in Europa. Von Delacroix bis Kandinsky, den Figurationen, saß da wer am Tisch, bei Tisch, zu Tisch, aufrecht, beim Studium, in der Stube, im protestantischen Pfarrhaus, am Schreibtisch, am Esstisch oder lagen da alle Posituren, Posturen, auf Lagerstätten, hingesackt, eingefallen, in Kissen, in Lüften, wie die stereotypischen Motive der Opiumrauchenden, Jean Lecomte du Nouÿs Traum des Eunuchen (1874), ein Einsinken? Doch, ja, da, dondolo, da ist die (Hänge(r)-)Brücke: es ist ein Schaukelstuhl! Der Schaukelstuhl, benannt nach den Shakern, der shaker furniture der gleichnamigen protestantischen Glaubensgemeinschaft, kommt in den USA noch mit den Pilgrim Fathers auf und trägt den ok-so-coolen Namen Salem rocker. Nur scheint es doch ein Unterschied zwischen Schütteln (shaken) und Schaukeln (to rock). Durchgeschüttelt wird man auf dem elektrischen Stuhl in Zuckungen, Wiegen wiegt man sich und andere von der Wiege bis zum friedlichen Einschlummern auf dem Schaukelstuhl. Das ist doch auch ein aus Horrorschockern bekanntes Bild wie sich der demente Alte auf der Veranda knarzend in den Schlummer wiegt, traumatisiert seit klein auf, nun bald weltentrückt; The Freaking Horror Show of the World. Als Symbol des Alters, weniger eines der Weisheit denn der Wunderlichkeit, des langsamen Hinüberwiegens, ol' C.C. Rider. Wer bestimmt den Neigungswinkel der Kufen des Schaukelstuhls? Das ist kein Brett in den Abgrund geneigt, auf dem der leblose Körper in die Grube oder die Meerestiefe rutscht, sondern eine schöne Rundung, die auch wieder nach oben führt, vor und zurück, wie beim Schaukeln. Dumm-Eingelullt. Als »Bugholzschaukelstuhl Nr. 1« taucht er im Thonet-Katalog auf. Könnte so auch im Kontor stehen (im Degasschen Baumwollkontor, findet sich da vielleicht auch ein Schaukelstuhl?), auch wenn das Lesen der Gazetten nur mehr ein Wippen mit dem Fuß als äußerstes erlaubt. Das Schaukeln des Schaukelstuhls ist heute das Kippeln in der Schule, das Drehen auf dem Bürostuhl. So ist das Bewegungselement fortgeführt und diese Stühle, gerade der Schaukelstuhl, das Gegenteil des Thrones, des firmen. Findet sich denn ein Schaukelstuhl auch im preußisch-protestantischen Pfarrhaus des Ottocento?

Hallo hallo, ist dort die Irrenanstalt? (Ton Steine Scherben)
Hello yellow helicopter, take me to the mental doctor (Sophia Kennedy)

2017 Juni 11
gloryhole
zimmerspringbrunnen

The Wonder Show of the World, it's me, a burp. Wie soll man so aus seinem Herzen auch kein gloryhole machen? »Glory Hole«, der »Überlauf einer Staumauer«, das Überlaufbecken für Herzensergießungen anderer. In GTA: San Andreas gibt es tatsächlich einen »Glory Hole Theme Park«, ohne Zimmerspringbrunnen-Schaltung. Die doppelte Bedeutung von "All" im Deutschen als "alles" und "leer" (im Umgangssprachlichen) könnte im Englischen durch die Nähe von "whole" und "hole" wiedergegeben werden. W'ont Wo'nt Won't You Teach Me To Bear You? War das Cover-Artwork nicht schon wieder Friedensreich Hundertwasser? Eine zerdetschte Spirale wie eine überfahrene Frucht! Vice versa sollte nun Bonnie Prince Billy einen seiner nächsten Titel 10002 Nights Homo Humus Come Va How Do You Do nennen! Ein Gemälde diesen Titels wird anscheinend auch im Schloss Britz ausgestellt, klingt vielleicht eher wie ein Songtitel für Dean Blunt. Physalis! Auch »Blasenkirschen« genannt. I'm a fruit with a husk. Niemand hat mein Herz gesehen und keiner hat's gesehen.

2017 Mai 31
logorr
zimmerspringbrunnen
schreibfehler

eia EIA (i ay ey)

Abdi Haybe Physalis,
Abduct me from my sins,
Or teach me to bear them,
For shaken I am.

(Dein strähniges Haar) Maragete/two characters forward, and three steps back/ein Schreibfehler in Traueranzeigen/the end has no end [spiralisiert]? Aus der »Margarete Feige« in der abgebildeten Traueranzeige wird der Eintrag »Trauerfall Maragete Feige«, verstorben 97jährig am 9. Dezember 2012. »4 Besuche« auf trauer.dieharke.de. Eine zweite Maragete: Maragete Cawthon, gestorben 84jährig am 4. Mai 2016 in Rome, Georgia. »Send Flowers« über legacy.com. Ich will einen Zimmerspringbrunnen erbauen, einen Zimmerspringbrunnen-Theme Park, wie Evelyn Waugh ihn ersann, nah Hollywood, in Tod in Hollywood. Der High Sheriff of Shropshire, in den East Midlands Englands, bedankt sich: »Thanks Maragete & Ness & John [...] Good presentations, great cake!«. Entgegen: Die eingefallenen Wangen John Fishers in der Zeichnung Hans Holbeins d. J., der 1509 die Trauerrede hielt für Margaret Beaufort, Countess of Richmond and Derby; aus der, in einer Fußnote der deutschen Ausgabe von Samuel Knights Das Leben des fürtrefflichen ERASMI von Rotterdam (»Ins Deutsche übersetzt von Theodoro Arnold«, Leipzig 1736), die »Gräfin Maragete von Richmond« wurde. So tanzen die Lettern, im verdrehten Schriftsatz, im Fehlschritt über die Tastatur. So sprach John Fisher über Maragete: »She was not vengeable ne cruell, but redy anone to forgete and to forgyve injuryes done unto her, at the least desyre or mocyon made unto her for the same. Mercyfull also and pyteous she was unto such as was greyved and wrongfully troubled, and to them that were in Poverty and sekeness, or any other mysery.« Und nun gehe alles den Johann Sebastian Bacharach runter. Berg Bacharach, Burp Bacharach, Fetzen Dönerstreifen schälen sich an meiner Magenwand wie Korkeichen.

2017 Mai 28 | Juni 11
neukölln
museumsbesuch
zimmerspringbrunnen

Im »Schloss Britz«, heute Nachmittag, die Räume im Erdgeschoss der Dauerausstellung zur »Wohnkultur der Gründerzeit« sind betreten worden, ja, von mir, mit Schuhen auch und hundert Laichen-Wörtern an den Sohlen. Im »Damenzimmer« ein »Zimmerspringbrunnen« aus »Rosenquarzglas« aus Londoner Herstellung von 1880 (»um 1880«, wie eine Umrundung). Leider nicht in Betrieb, keine Wasserspiele in bürgerlich-domestizierter Form; d. h. nicht das Naturschauspiel des Rheinfalls, nicht die hochherrschaft-hydraulischen Wasserspiele von Versailles, nur der trockene Zimmerspringbrunnen als Dekor im dunkel getäfelten »Damenzimmer«. Wofür stand diese Chiffre noch einmal bei Jens Sparschuh? Heute wäre es wohl Tropical Island oder ein Bildschirmschoner. Hier, im Raum, kommen durch die rosige Glasfärbung Fertilitätsgedanken, die Sper­ma­tor­rhö jubilierend flussaufwärts aus dem Wasser schlagender Lachse, der blutrote Lava-(Laich)-spuckender Vulkane, der squirt der Geysire, Fontänen von Walen, holy mysticism! - Große Naturschauspiele im Ersten, womit wir wieder in den vier Wänden und 1995 wären. Ach, nein, es ist doch frolicking Hundertwasser, der im folgenden Raum, im tageslichtdichten »Festsaal«, auf einer hochgezogenen Leinwand in Filmaufnahmen zu Wort kommt, der mich weird-befangen bannt. Mir perforiert sich ein Ornament aus den dunklen Interieurs des »dogmatischen Historismus« in Hundertwassers Malfarben zu einem inwendig-auswendigen Schmerz, mit kühler Nadel aus der ›Strafkolonie‹ stenografiert. Ich winde mich wie ein Bandwurm unter dem Ticken der Nähmaschine, wie eine überfahrene Natter. Trauer wie ein Tintenfleck breitet sich aus, dringt wie eine eine Spore in den Schmalz und bricht auf. Da dare forfait alla vita. Ein Alp geschnallt auf den Solarplexus. Sind es die geschlossenen Räume, die schweren, die diese Wirkung einer hochmodernen-sommerlichen Sonntagsübelkeit herauskehren, zum Reiz des Zerbrochen-Werdens, completely deflated-Werdenwollens? Umstülpe mich wie deine Handtasche und kehre den Grind nach außen, es rieselt. Die ganzen Knäuel Backpapier an Kuchenböden, Teflonbeschichtung von Ofenformen und Alufolie, die ich in meinem Leben mitgegessen habe, mit Zwiebeln und Sauce im Lahmachun, ruhen fossil in den Fältchen meines Dickdarms. Und regen sich wieder wie Maikäfer, wenn Hundertwasser im Film von der Spirale als Symbol des Lebens spricht (so habe ich den Dickdarm vor Augen in all seinen Windungen). Er habe in seinem Leben vielleicht 700 Bilder gemalt, was eigentlich nicht sehr viel sei: Malen sei wie Träumen und das Bild ein »Soldat des Traumes«. Vielleicht hat er auch »Resultat« gesagt, doch das ist bei seinem Wiener Dialekt nicht letzthin zu bestimmen. Szenenwechsel: Hundertwasser wieder im Morgenmantel, diesmal nicht über den Dächern von Wien, sondern auf einer Dachterrasse in Venedig. Er malt. Er zerstößelt einen Klumpen hellbraune Erde, von einem Termitenhügel in Uganda abgebrochen, beträufelt ihn mit Wasser und malt. Jarry, je t'en prie, komm her schnell, auf deinem Rad, und hole mich, ich bin schon fast hinüber! Da, beim Forthasten, stolper' ich fast über einen abgestellten Rollator; die alte Frau blickt mit verkniffen-aufgerissenem Gesicht verzerrt nach vorne. Haha, die Kulisse für schwarz-weiße Stummfilme stolpender Komiker, Mad Movies. Im Nachbarraum, über dem dunklen Esstisch ein breiter Schinken von Johannes Deiker mit einer Wildschweinrotte, durch dessen Leinwand jemand stürzen müsste, torkelnd wie Tyler, the Creator. Padabauz! »Seltsame Blüten«. Ist ›Lustige Witze‹ nicht der tieftraurigste Titel, den man sich denken könnte? Ach, malte Hundertwasser Deiker, malte den Bisonschweinen pietscherne Augenringe, wie Harold Lloyd eine Puderquaste aß und in der Küche hinterm Speisewagen eingelegte Pfirsichhälften das entflogene Eigelb im Spiegelei ersetzen mussten. Es wird auch wieder dunkel, Nacht und Montagmorgen. Eine russische Reisegruppe (Zuschreibung!) schwärmt aus im Gutsgarten.

2017 Mai 14
1967
hk
global

Die Domain berlin1967.com führt nicht etwa auf eine Sonderseite der Berliner Verwaltung zum Summer of Love in der geteilten Weltstadt vor 50 Jahren, sondern zum Angebot eines Herstellers von Durchlauferhitzern und Induktionsherden namens »Berlin«, gegründet 1967 in Hongkong. Das Unternehmen wirbt unter anderem am Star Ferry-Pier mit einem Leuchtkasten für seinen Zip Hydrotap. »Instant Boiling Water« ist in Hongkong wichtig, wird doch auch am Flughafen eigens »Hot Drinking Water« ausgewiesen. Heißes Trinkwasser, ein Trend. Gießt auf den Tee, den milk tea, der kommt gut zum Dim Sum. Wieso aber der Hersteller den Namen »Berlin« gewählt hat, damals, 1967, ist eine interessante Frage. Vertrieben werden die Geräte von Hang Tat Heating Systems Consultant Co Ltd, ebenfalls aus Hongkong. Im Hongkonger Branchenbuch trifft man auf weitere Firmen, die »Berlin« im Namen führen, eine Berlin Cleaning Services Company Limited, ein Geldwechselbusiness, einen Optiker, Textilhändler, Möbelhändler, die Berlin Chemicals & Dyestuffs Co Ltd, eine Berlin Underwriters Ltd, schließlich eine Berlin Spa Ltd. Es ist nicht ersichtlich, ob diese Unternehmen alle zusammenhängen; die Adressen unterscheiden sich zumindest. Die Cleaning Services Company wirbt auf ihrer veralteten Seite mit »(before)«- und »(after)«-Bildern von 2002. 1967 war Hongkong von schweren Unruhen und Kämpfen erschüttert worden; die ZEIT titelte Ende Mai »Maos Theaterdonner in Hongkong« und kritisierte die »frühkapitalistischen« Arbeitsbedingungen vor Ort. Ein paar Tage später war der Schah in Berlin. In Buenos Aires ist »Berlín« der Name einer Straße und die 1967 eine eher bescheidenere Behausung. Etwas weiter vorne, wo die Berlín von der Presidente Perón abgeht, hier auf der Ecke, liegt Casa Ce-Mi (Electrodomesticos y muebles). In einem Schaufenster des Geschäfts sind Kühlschränke zu sehen, in einem anderen stapeln sich die Warmwasserboiler. Zu erkennen ist auf einem der Schriftzug der Marke Sherman; 1947 in Argentinien als ein argentinisch-amerikanisches Gemeinschaftsunternehmen entstanden und seit 1987 auch als Hersteller von »termotanques« tätig.

2017 Mai 14
wunder
literaturen
cito

Nachtrag: »Wir alle haben die Geschichte von dem kräftigen, schönen Käfer gehört, der aus der trockenen Platte eines alten Tisches aus Apfelbaumholz herauskam. Der Tisch hatte sechzig Jahre lang in der Küche eines Farmers, erst in Connecticut und dann in Massachusetts, gestanden. Der Käfer kroch aus einem Ei, das, nach den darüberliegenden Ringen zu schließen, viele Jahre vorher in den lebenden Baum gelegt worden war. Mehrere Wochen lang hörte man ihn nagen, nachdem er möglicherweise durch die Hitze eines Teekessels ausgebrütet worden war. Wer fühlt sich nicht in seinem Glauben an Auferstehung und Unsterblichkeit gestärkt, wenn er dies hört?« (H.D. Thoreau, Walden oder leben in den Wäldern, letzte Seite)

2017 April 16 | 23
ostern
wunder

Die letzte Erlebende, Mitlebende, Überlebende, Lebende des 19. Jahrhunderts, wenn auch nur d'un soffio, Emma Morano, geboren am fernen 29. November des Jahres 1899, ist nun, am Ostersamstag 2017, in Pallanza am Lago Maggiore verstorben. War dies der letzte Saum, der gleichsam noch hinüberreichte, aus der Spanne 1800—1900, und nun zurückzog sich, entfloss? 1899—2017, welch eine Signatur! Im Detail, ein saumselig wiegen an Halmen (gebraten in Zukunft), der Seidenraupen von Verbania, in perenner Verpuppung; nicht doch: sie fraßen sich, breit ausgelegt, in halbdunklen Räumen, knisternd wie Smacks in der Milch, prasselnd wie trocken Regen, durch die grünen Blätter der Weißen Maulbeere, noch vormals, bis um die Jahrhundertwende. »Ricordo di essere entrata da bambina in uno di questi stanzoni semibui dove venivano allevati i bachi da seta e di essermi stupita nell’udire come un rumore di pioggia scrosciante. Non vidi nessuno né potei scoprire l’origine del rumore se non quando avvicinandomi ai graticci capii che proveniva dalle mandibole di questi innumerevoli vermiciattoli che addentavano le foglie di gelso«. Die Seidenspinner verzehren die Blätter, raupen in den Wipfeln, livestock in den Lüften. Der Holzwurm, aber, nistet nicht im Baum, sondern im Holz, im toten Baum, im trockenen, verbauten Holz, im mittelalterlichen Holzbild aus Lindenholz, vergoldet, woraus es dann fein rieselt, wie Blütenstaub. Der entkrochene gemeine Nagekäfer bettet seine Larven wieder back in jenes Holz dem er selbst entwuchs; entlöcherte Intarsien mit Himmelsblick, verrenkte Glieder larviger Heiliger: das Holzbild hält wie Bienenstöcke beisammen seine Comestoren. Die Löcher werden zu Larven, die Larven zu Perlen; die Perlen der Flussperlmuschel schließen langsam, in 110 Jahren, den Fremdkörper ein: Swallowen in Veredelung. Perlen, Kokon und Holzmehl, so blüht und zerfrisst es auch die Ahnen, an deren große Namen (groß gemacht) die Retro-Inkursionen, Rekursionen knüpfen, (das späte Sherlock Holmes-Hologramm, die nächste Napoleon-Biographie) (all die sie mannen) fortgeschrieben, aufgegriffen, angerufen. Zwischen faustsch-falsifiziertem Osterspaziergang über Krankenversicherung für die pauperen Massen und Telegraphenmasten (Tasten); zu Brennholz zerschlagen in der nahen Not. »Es ruht der Hörer auf der Gabel,/eingehängt (eingedenk).« Die Osterglocken dondeln müd die leeren Köpfe, speiend stupor über den grünen Rand der Steckvase. Die Pflücker (uns), das blüht, die zupfen und kämmen und zwirbeln und zwirnen und weben den Stoff und tragen ihn auf, uns Weiterlebenden, mit dicken Fingern und gedämmten Decken (die Ballen, mit Blut, mit Kot und weiß).

 The Endless Scroll