2020-06-02 22:50 #neukölln

Zerlaufende Gesichter. Neukölln is healing: Der Löwe an der Ecke hat wieder auf. Auf dem Gehweg Wiedersehen von Gästen und Personal, einander zugeneigt, über Tischen. Auch drinnen sitzen wieder Leute, im Kerzenschein. Ich falle erst auf der Höhe des Comeniusgarten in einen leichten Trab. Das erste Mal seit Futsal am 9. März, dass ich mich wieder schneller als in Schritttempo bewege. Offensichtlich eine ungewohnte Erfahrung für meine Fußgelenke, die knackend aus einer langen Starre erwachen. Wie Anhänger, die nach dem sich setzenden und zersetzenden Halt an Ausfallstraßen eines Tages wieder angekuppelt und mit einem leichten Ruck angezogen werden und ins Rollen kommen. Ich trete als alter Mann vor die Tür. Am Richardplatz humpele ich über das Pflaster, unrund wie Hader am Penny vorbei. Unter der Ringbahn hindurch, ein Mann in ausladender Latzhose winkt einen LKW in die Laderampe (Ladebrücke) ein. Über den Neuköllner Schifffahrtskanal, ich spucke über die Brüstung ins Wasser, mache ein paar kurze Antritte und Lockerungsübungen. Ein Fuchs trabt aus der Dunkelheit eines leeren Firmenparkplatzes herbei und quert die Straße. Das Gelände der DHL Packstation 180 liegt still, die Lieferwägen geparkt wie die Flotte der Stretch-Limousinen der Firma Holy Motors nach Feierabend. Liqui Moly. Durch den Tunnel aus Pressspanplatten laufe ich polternd über die Baustelle. Von der Neuköllnischen Allee biege ich rechts in die Grenzallee, Richtung Autobahnauffahrt. In der dunklen Stille des Neuköllner Gewerbegebiets verlangsame ich meinen Schritt und gehe. Auch weil mein voller Bauch spannt und ich den Mond bewundern will, der auf die Musterküchen fällt. Zerlaufende Gesichter in den geschlossenen Räumen, auf den Asphalt getreten. Die Fingerknöchel der geballten Faust reiben über das Brustbein wie einen Klangkörper, google: das Schrapinstrument Güiro mit seinen Kerben im Musikunterricht in der 4. Klasse. Resonanzräume hinter den Fenstern. Der Mond flutscht einmal aus der Faust wie ein Eigelb. Der Mond zieht einmal, in langen lauen Nächten, unter dem Küchenfenster, unter dem Küchentisch hindurch. Ein Mondfisch. Lustbefeuchter. Hallo hallo, Sommer, laue Nächte, Hundstage, hier bin ich. Tolle Hunde. Wie gut es sich geht, nur mit Hausschlüssel, T-Shirt und kurzer Sporthose bekleidet, vor die Tür zu treten, am Anfang der Nacht, sacht, bluau. I’m feeling Bluau. Der Wahn der Leute in den lauen Nächten, übergriffig, aufschnappend wie ein Messer, ins Gesicht springen.

Mondschatten auf Gehwegplatten, kratern über hervorbrechenden Baumwurzeln. Rasensprenger nässen in der Nachtluft den Asphalt. Wieder quere ich den Schifffahrtkanal, nun mit Blick auf die Schleuse und die Schrotthaufen. Röstaroma von Kaffee schnupper ich, das steht hier durchdringend in der Luft, von den Schloten von Tchibo am Kanal. Geil Geil Grenzallee. Der OBI-Parkplatz mit der überdimensionierten Leuchtreklame liegt leer und dunkel. Schemenhaft Bewegungen in zwei geparkten Autos, Innenlicht. Ein LKW läd krachend einen Schrottcontainer ab. Ein Fernfährer telefoniert in seiner Kabine, es dröhnt nach draußen. Später, der S-Bahnhof Neukölln von Blaulicht getönt, gespiegelt in Glas und Pfand. Müde Gesichter. Zerlaufende Gesichter. Abkippend.

Auf der Terrasse vor der Villa Rixdorf sitzen noch Gäste. Hier habe ich mal Pfifferlinge gegessen. Seitdem weiß ich, wie die aussehen. Vor dem Löwen verlangsame ich wieder meinen Schritt, als wäre ich nur kurz zum Späti gewesen. Vom Balkon grüßen die Nachbarn, halbwachsen, mit Jacky-Cola in der Hand, Euch auch noch einen schönen Abend. Dann hämmern sie „Verdammt ich lieb dich, ich lieb dich nicht“ durch die Decke, bis wer von der Straße hochruft, „Halt’s Maul oder sing was vernünftiges, du Opfer“. Bald kehrt Stille ein. Das Schlagerkarussell dreht aus. Spät in der Nacht höre ich noch Feuerwerk. Unwirklich. Heia.