Seidenspinnerraupen-Faserland: Über Verbindungen zwischen Kopf und Kracht

Nachdem ich das rührstückig-abgründige Rory Gallagher-Kapitel aus Uwe Kopfs Romandebüt Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe (2017) als Vorabdruck im deutschsprachigen Rolling Stone gelesen hatte, kaufte ich das Buch. Einige Wochen später, nach der Lektüre, kaufte ich am Bahnhof Südkreuz wiederum Christian Krachts Faserland (als dtv-Mängelexemplar, 16. Auflage 2013, für 3,50), sein Romandebüt von 1995, und stieg in den Fernbus. Während der Fahrt, mit Kopf im Sinn und Kracht zur Hand, taten sich nach und nach mehrere Verbindungen zwischen den beiden Bildungsromanen auf. Eine Auflistung:
  1. Satte Farben: Krachts »Barbourgrün« (S. 29), Kopfs »bibleblack« (100)
  2. Kindheitserinnerungen: ins Bett geschissen (Kracht, 33), ins Bett gepisst (Kopf, 73)
  3. unvermittelte NS-Bezüge, geradezu obsessiv, in beiden Büchern
  4. Rollo: Sowohl bei Kracht als auch bei Kopf taucht eine Figur namens »Rollo« auf. »Rollo ist ein alter Freund von mir«, heißt es im sechsten Kapitel von Faserland (107), eine Person, die wie Simplicissimus’ Baldanders oder Bardamus Robinson immer wieder auftaucht in den unterschiedlichsten Situationen. Rollo rettet den Erzähler nach seinem Zusammenbruch in Heidelberg und bringt ihn nach München. Später, bei Rollos Party am Bodensee – die Rollen vertauscht, Rollo hilfsbedürftig auf dem Steg, gebrochen wie der große Gatsby – lässt er ihn im Stich und flüchtet in die Schweiz, wo er aus der Zeitung von Rollos Tod im See erfährt. Auch bei Kopf gibt es Toms »Kumpel Rollo« sowie eine »Party bei Rollo« (47). Rollo taucht in verschiedenen Episoden auf, etwa beim gemeinsamen Gang in die Herbertstraße, wo er von »koitieren« (59) spricht. Dazu kommt es später zwischen Sören und Gila auf einer weiteren Party Rollos: »Mein Bruder schläft mit meiner Freundin«, denkt sich Tom (168). Und Rollo schaut zu.
  5. Thomas Mann: Krachts Erzähler mag Thomas Mann, hat ihn »auch in der Schule lesen müssen«, findet ihn »richtig gut« (154). Toms Bruder Sören — d. i. Kopfs Alter Ego — mag Thomas Mann nicht, Tom kennt ihn aus der Schule (Kopf, 52).
  6. Öffnungszeiten von Gotteshäusern: Krachts Erzähler möchte in der Schweiz eine Kirche betreten: »Ich denke, da gehe ich jetzt mal hinein, vielleicht wegen Rollo, aber leider ist die große Eingangstür geschlossen, weil es eine protestantische Kirche ist, und die müssen nicht immer offen haben, so wie die katholischen Kirchen.« (Kracht, 150) Toms Mutter berichtet aus bayerischer Erfahrung: »Das Wirtshaus schließt zwischendurch, das Gotteshaus hat immer geöffnet«, doch muss Tom feststellen, dass die Lutherkirche St. Gabriel bei ihm vor der Tür »an einem Mittwochmittag […] abgeschlossen« ist und denkt: »[D]ie Protestanten mussten wohl andere Öffnungszeiten haben als die Katholiken« (185).
  7. Bier im Anfangssatz: »Also, es fängt damit an, daß ich bei Fisch-Gosch in List auf Sylt stehe und ein Jever aus der Flasche trinke«, lautet der erste Satz bei Kracht. Auf der übernächsten Seite erfährt man, dass dem Erzähler »Jever eigentlich gar nicht schmeckt« (15). Tom hingegen trinkt Jever, sein Lieblingsbier, das seine Mutter immer für ihn bereithält. Im Anfangssatz taucht jedoch auch bei Kopf eine Biersorte auf, die Tom nicht schmeckt: »Bevor sich dieser 40-jährige Junge nach Art der Greise erhängen wird, wäscht er noch mal Wäsche […] und während die Waschmaschine läuft, bestellt er sich eine Pizza […], dazu drei Dosen Bier (Warsteiner, er mag dieses Tantenbier eigentlich nicht, aber der Pizzadienst führt keine andere Sorte)«. Und auch bei Kopf wird der »Fischhändler Gosch auf Sylt« referenziert, daraus das Verb »goschen« abgeleitet, von dem sich Sören sozusagen abgrenzt, indem er »jevert« (258).
  8. Pet Shop Boys: Die laufen in Faserland auf einer trostlosen Party (40), der Erzähler mag sie auch nicht wirklich, nippt am Prosecco. Der Prosecco kommt erst mit der letzten Freundin Eva in Toms Leben, für Eva lässt er Rollo und das Bier im Stich (Kopf, 266). Als Eva mit Tom Schluss macht, hört Tom aus einer Kneipe einen Song der Pet Shop Boys und erklärt Eva die Bedeutung hinter dem Bandnamen; dass er sich ableite von der Praxis sich in einem Präservativ Seidenspinnerraupen rektal einzuführen, »die Seidenspinnerraupen krabbeln wie verrückt in dem Kondom und haben Angst; sie können nicht mehr atmen, sodass nach und nach ihre elf Gehirne absterben« (308).
    (Bei systematischer Durchsicht der beiden Werke unter Einbeziehung der Beziehungen zwischen den beiden Autoren fänden sich mit Sicherheit noch weitere Bezüge.)
Und dann taucht Uwe Kopf – schier unglaublich für mich ahnungslosen Leser, der sich gerade noch die Parallelen anstrich und dann gleichsam vor den Kopf gestoßen wird – in Faserland auch noch persönlich auf: In München, in einer angesagten Bar mit Namen ›Ksar‹, sieht der Erzähler »plötzlich [...] in der Ecke diesen einen Menschen sitzen und auf jemanden einschreien. Es ist Uwe Kopf, dieser Kolumnist, oder was auch immer er ist. Er hat eine Vollglatze, und das paßt ja auch ganz gut zu ihm, weil er ein ziemlich harter Nazi ist.« (Kracht, 114) – Disclaimer: Ich habe die beiden Autoren nicht gegooglet und auch die Verbindung zwischen beiden nicht recherchiert, ich mache das hier nur nach den beiden Büchern und auf dem Einband im Autorenporträt sieht man in der Tat keine Haarpracht Kopfs (auch weil er eine Mütze trägt), aber dass er als »Nazi« bezeichnet wird, wieso das? Wäre er einer gewesen, dann hätte er wohl kaum im Rolling Stone und in anderen Tageszeitungen als Kolumnist veröffentlichen können. Also wohl literarische Fiktion, aber aus Zu- oder aus Abneigung vonseiten Krachts? Jedenfalls berichtet der Erzähler Krachts weiter, dass Kopf ihm einmal auf einer Party ein »Sturmfeuerzeug an die Stirn geworfen« habe, dass er »sehr gewalttätig« sei und dass er »im fränkischen Wald so eine homosexuelle Wehrsportgruppe« habe (114f.). Es gibt auch einen Tumult in der Bar, doch verlassen Erzähler, Rollo und Hannah das Lokal bevor sich herausstellt, ob Kopf involviert war oder nicht.

Kopfs Seidenspinnerraupe ist posthum erschienen, mit einem Zitat Christian Krachts auf der Rückseite, das lautet: »Uwe Kopfs sardonisches Romandebüt ist brillant und zutiefst erschütternd und voller Heiterkeit.« Es ist auch tieftraurig und entsetzlich, ohne das wirklich zuzugegeben. Das stößt erst im Nachgang auf. So wie die Oma Loris in der »Abstellecke« (Kopf, 37) entsorgt wirkt, so entsorgt Fritz Honka in Heinz Strunks Der goldene Handschuh (2016) die Frauenleichen neben seinem Bett. Nimmt man noch Stuckrad-Barres Panikherz (2016) hinzu, so ergibt sich eine norddeutsche Trilogie der Tristesse. Strunk und Kopf lassen den Lesenden zurückfahren wie vom beißenden Geruch von dampfendem Klostein, faszinierend-grotesk anzusehen so wie Labskaus, »Mutters Leibspeise« (Kopf, 92). Irgendwo erinnert das dann auch noch an Franz Witzels BRD-Groteske Erfindung der Roten Armee Fraktion (2015), die aber den poetischen Irrgarten wuchern lässt (›komm in den totgesagten Park und schau‹), wo Strunk und Kopf olfaktorisch direkt to the senses fahren-auffahren.
Wo Thoreaus Waldenepiphanie des aus dem sechzig Jahre alten Apfelbaumholz eines Tisches schlüpfenden Käfers für den »Glauben an Auferstehung und Unsterblichkeit« steht – siehe Eintrag vom 14. Mai 2017 unten –, da bedeuten Kopfs im Anus aus Jux, Pop und pleasure erstickende Seidenspinnerraupen das Zugrundegehen, die Ausbeutung, das Leid, die Brutalität und Hoffnungslosigkeit; das Ende.



2018-05-01
literaturen, interpretation,
seidenspinnerraupen-faserland