2019-01-06/12 #neukölln

War eben Joggen, 37 Minuten durch Neukölln.*

* Die Vokabel ›joggen‹ mag mittlerweile eher den süßlich-abgehangenen Charme einer auf dem Heizkörper trocknenden, schweißnassen Jogginghose verströmen, überhaupt dem Mikrokosmos ›Couch‹ statt dem Begriffsfeld ›Laufen‹ verhaftet sein, wenn sie nicht als Ausweis chic-selbstbestimmter (Nach-)Lässigkeit ausgeführt wird – nur bitte niemals schwitzend, denn dafür gibt es Funktionswäsche, sondern leger getragen gegen den Unbill dieser Welt, die Hände in den Taschen vergraben, Display und nackte Knöchel (flanking), kurz : Ich wohn' in meiner Hose. Wobei der reiche Baumwollstoff der Jogginghose wohl zu unterscheiden ist vom dünnen Textil des Trainingsanzugs.

Jedenfalls bin ich durch das Neuköllner Gewerbegebiet gejoggt, mit seinen Röstaromen von Tabak und Kaffee und Feinstaub. Weitestgehend weich gepolstert auf zerdrückten Feuerwerksrestkörpern, teils knirschend auf Rollsplitt und schiefen Gehwegsplatten. Mit Ausblicken aufs Estrel, das bei der Querung des Neuköllner Schifffahrtskanals jedes Mal dalag wie eine Sphinx. Ich weiß, weiter unten, am 13. August 2017, habe ich das Estrel als ›Taj Mahal‹ bezeichnet, doch handelte es sich dabei um eine schemenhafte Allegorie zur Seitenansicht, wie sie sich etwa vom Außenbereich des McDonald's zeigt, wenn die Breitseite des Estrel-Baus aus der Ferne in mildem Abendlicht leuchtet und wie flirrend schwebt über der staubig-sandigen Großbaustelle. Hier ist die Frontansicht gemeint, wie sie sich auf der Brücke zwischen dem Parkplatz der Berger-Reisemobile (Wohnmobilverkauf und -vermietung seit 1984) und dem ISOGON-Fenstersysteme-Schriftzug mit dem warnenden Smiley linkerhand auftut; aufragend wie in Kobra-Stellung (Yoga) oder eben die Sphinx, wenn auch etwas weniger grazil, eher klobig und ›nur Nase‹, ohne weitere Ausformungen und Partien.

Die Niemetzstraße entlang, unter den Ringbahngleisen hindurch nach Süden, wird Neukölln vom Wohn- zum Gewerbegebiet. Zapf-Umzugscontainer stapeln sich, leere Ladebrücken, ruhegeparkte Touristenbusse. Die Werbeplakate finden wenige Blicke; McFit feuert an (›Das wird dein Jahr‹), manch vorweihnachtliche Kontraposition ist verschwunden, wie jene von alladventlichen Spendenaufrufen neben der Rückkehrer-Prämien-Kampagne des Innenministeriums oder dem Mittelfinger von Auto-Teile-Unger.

Mit geschätzten 37 Minuten Laufzeit war ich heute etwas länger unterwegs als Bezirksbürgermeister Martin Hikel, der vormittags in 35 Minuten und 56 Sekunden eine Distanz von 6,31 Kilometern überwunden hatte, wofür er laut den allsonntäglich auf Twitter bereitgestellten Runtastic-Werten 5397 Schritte benötigte. [1] Lieber Angaben selbst leaken statt geleakt werden.

Ob das Leaken in selbstoffenbarender Absicht vielleicht mit Chris Burdens (1946–2015) ›Full Financial Disclosure‹-TV spot aus dem Jahr 1977 seinen Anfang nahm? »In keeping with the Bicentennial spirit, the post-Watergate mood and the new atmosphere on Capitol Hill, I would like to be the first artist to make a full public financial disclosure« – nach diesen Worten legte Burden, vor einer amerikanischen Flagge sitzend, in dem kurzen Clip, der im Werbeblock eines lokalen Fernsehsenders ausgestrahlt wurde, seine Einkünfte und Ausgaben für das abgelaufene Jahr offen. Demnach durfte er sich über einen Reingewinn von 1 054 Dollar freuen. [2]

Ich jogge die Neuköllnische Allee entlang an Philip Morris vorbei, deren Kippen gut zwischen Burdens Lippen passen würden, am Schnauzer kokelnd, das 70er-Jahre-Braun des zackigen Zauns um das Gelände bewundernd und biege rechts in die Haberstraße ein, an der Al-Nur-Moschee vorbei, auf der Gegenseite grüßt vom Dach der Marlboro-Cowboy als platte Silhouette mit Lasso. Das Röstaroma von Tabak liegt in der kalten Luft. An der nächsten Ecke biege ich in die Bergiusstraße ab, zurück gen Norden. Gegenüber wirbt die Bahama Warenvertriebs GmbH mit Plakaten für günstige Haushaltsgeräte, ein Gebäude weiter wird Märkisches Landbrot gebacken. Der Autoverkehr nimmt zu, es geht Richtung Autobahnauffahrt an der Kreuzung Bergiusstraße/Grenzallee, ödes Terrain. Auf der einen Seite wieder eine große Baustelle mit schwimmendem Wittmann-Ponton, gegenüber thront grell-rot ein neuer KFC. Die Grenzallee entlang noch einmal über den Kanal, wieder mit Blick gen Estrel, unten gabelt sich der Flussweg in ein Anlaufbecken zu Tchibo – Röstaroma von Kaffee diesmal über dem Blick – und eine weiterführende Schleuse. Auf der Halbinsel in der Mitte türmt sich ein akkurat sortierter Berg an Metallschrott. Nach rechts biege ich in die Naumburger Straße, komme am wilden Flohmarkt auf dem OBI-Parkplatz vorbei, wo viel los ist. Videospiele, Geschirr, alte Elektrogeräte, eigentlich alles Mögliche findet sich hier. Früher einmal, ich erinnere mich, erstreckte sich die Auslage auf den Lidl-Parkplatz, doch der ist heute mit einem Flatterband abgesperrt, jemand auf einem Klappstuhl wacht davor.

Auch Burden, bekannt weniger für seine full disclosure-Erklärung denn für seine Performance-Stunts, angefangen mit den fünf Tagen, die er als Abschlußarbeit in einem Schließfach seiner Uni zubrachte (Five Day Locker Piece, 1971) über den berüchtigten Gewehrschuss in den Oberarm (Shoot, 1971 [3]) oder der Aktion, wie er sich in eine Plane gehüllt in der Dunkelheit auf den vielbefahrenen La Cienega Boulevard legte (Deadman, 1972) bis hin zum quälend-eindringlichen Video, wie er langsam, mit hinter dem Rücken verschränkten Armen (gleichsam in der Positur des Flaneurs) durch Glasscherben robbte (Through the Night Softly, 1973), – auch Burden also ließe sich vielleicht in Verbindung setzen mit dem Joggen, jedenfalls unter der Prämisse, dass auch für James F. Fixx, ›Vorläufer‹ (im Sinne von ›Auslöser‹, ›treibende Kraft‹ und ›Gesicht‹ sowie ja auch ›front-runner‹) der Jogging-Bewegung als Autor von Bestsellern wie The Complete Book of Running (1977), das Joggen mit einem großen Risiko verbunden war, galt er doch aufgrund einer langjährigen ungesunden Lebensführung (Raucher, Übergewicht, Stress; zumindest bis zum ›Konversionsmoment‹, infolgedessen er mit dem Dauerlaufen, also ›Joggen‹, anfing) und erblicher Vorbelastung als Risikopatient. Sein Vater war mit 42 Jahren an einem Herzinfarkt gestorben, ihn selbst ereilte der Herztod 1984 mit 52 Jahren (beim Joggen). Diese Tragik verleitete wohl die Londoner Sunday Times zu der trockenen Sentenz »Joggers die fitter« [4] – indes der Präsident des New York Road Runners Club im Nachruf der New York Times vorschnelle und vor allem wohlfeile Diagnosen mit dem Kommentar »Maybe if Jim Fixx didn't run, he'd have died five years ago« zu kontern wusste. Dem Artikel war überdies zu entnehmen, dass Fixx, als er 1967 mit dem Laufen anfing, in seinem Heimatort Riverside noch kopfschüttelnd als »that man who runs in his underwear« bezeichnet wurde. [5] Bis zur Jogginghose, ja bis zum Siegeszug von atmungsaktiver Funktionswäsche war es wohl noch ein langer Weg.

Dass dieser beschritten wurde, scheint unbestritten, was nicht zuletzt ein Blick in den Eintrag für das Wort ›Jogging‹ auf duden.de zu zeigen vermag: Als »Fitnesstraining, bei dem man entspannt in mäßigem Tempo läuft« [6] wird die Tätigkeit dort definiert, wobei hier vor allem der Begriff ›Fitness‹ ins Auge springt, der in diesem Zusammenhang wohl erst kürzlich hinzugefügt worden sein wird. Es ist jedoch nicht zuletzt die der Definition beigegebene Bebilderung – es handelt sich um das Foto eines ›joggenden‹ Paares (ein Mann und eine Frau), beide in engen Laufhosen und neonfarbenen Laufshirts, wie aus dem Tchibo-Prospekt –, die die Diskrepanz vor Augen führt zwischen der sozusagen ausgeleierten Unterwäsche des Pioniers und der »formbeständige[n] Thermo-Lauftight« aus »DryActive Plus-Gestrick« [7] heutiger Wiedergänger.

[1] https://twitter.com/martinhikel/status/1081840703775432704
[2] https://youtu.be/s8QrrExMUvQ?t=468
[3] https://www.youtube.com/watch?v=drZIWs3Dl1k
[4] zit. n. https://www.zeit.de/1984/31/todfit
[5] zit. n. https://nyti.ms/2GPLl5x
[6] https://www.duden.de/rechtschreibung/Jogging
[7] https://www.tchibo.de/windprotection-lauftight-p400123327.html