Der Checkpoint Charlie als (›Nicht-)Ort(‹) (des ›Endes der Geschichte‹)

›Checkpoint Charlie‹ hieß der alliierte Kontrollpunkt am Grenzübergang Friedrichstraße/Zimmerstraße zwischen amerikanischem Sektor und Ostberlin. Nun sind die Grenzanlagen lange abgebaut, doch der Name, militärisch codiert nach dem dritten Buchstaben des Alphabets — was würde F. Kittler daraus machen? — ist geblieben. Auch die kleine Wachbaracke, 1990 noch ins Museum nach Dahlem verfrachtet, kehrte zehn Jahre später als Nachbildung wieder an Ort und Stelle zurück, auf die kleine Verkehrsinsel zwischen den beiden Fahrstreifen der Friedrichstraße. Mit zum Ensemble gehören der hochaufragende weiße Fahnenmast mit fliegender US-Flagge, die hüfthohe Schutzattrappe aus präparierten Sandsäcken und die davor postierten Statisten, die als US-Soldaten verkleidet mit Touristen posieren. Auf Wunsch — und gegen 5 Euro — soll es (von den fake-GIs?) sogar einen DDR-Stempel in den eigenen Reisepass geben [1], was einen Besucher später peinlich berührt im Forum von weltreise-info.de hat nachfragen lassen, ob denn damit nun der Reisepass ungültig geworden sei, er plane demnächst über Dubai nach Neuseeland zu fliegen [2] — was würde M. Ferraris mit seinem ›Documentality‹-Konzept daraus machen?

Noch tiefer in die Simulation hinein, wie in die vorgeblich mit Zement befüllten Sandsäcke: Hallo virtuelle Welt! Die Konstellation wirkt so gut gerendert, dass ich unweigerlich an die Suggestionskraft von Cold War-Szenarien in »historisierende[n] First-Person-Shooter[n]« [3] denken muss. Prononciert wird die Verkehrsinsel ›Checkpoint Charlie‹ zusätzlich durch einen Leuchtkasten, der wie ein übergroßes Verkehrsschild den Verkehr teilt und nach beiden Richtungen das Porträt eines jungen Soldaten ausstrahlt. Die 1998 errichtete Installation erinnert im Stil an die Fotografien Wolfgang Tillmans (sind aber von Frank Thiel): der junge russische Soldat und sein amerikanisches Pendant geschossen wie junge Pferde, geladen/tänzelnd/verletzlich, herausfordernd auch und ganz schön grün in der Uniform. Die russische Seite muss man sonst auf den Gehsteigen suchen, bei den fliegenden Händlern mit Sowjet-Militaria im Angebot, was schon lange kein Abverkauf von Altbeständen mehr sein kann nur Retro-Neuware für die Schulklassen, die ihren bunten McSundae darauf kleckern — die Infotafeln sind bleiern. Der McDonald's grüßt mit dem Aufkleber »Sie betreten den amerikanischen Sektor« an der Scheibe. Gegenüber, an der Hauswand des Mauermuseums hängt eine ukrainische Flagge, unübersehbar und mit Solidaritätsbekundung inkl. Aufruf an Putin seine geopolitischen Ambitionen fahrenzulassen. Das ›Who won the Cold War?‹ erscheint heute nicht weniger unbestritten als im Entscheidungsmoment des Mauerfalls, doch faded der ›Sieg‹ langsam aus, gleich wie das end of history-Motiv. Wie in der letzten Einstellung eines Films verliert sich der Fokus langsam, entschwebt das Bild vom im Abbau begriffenen Grenzübergang in die globale Totale. In der ad acta-Rückschau, wiederum, werden die Konturen klarer und so zeichnet sich auch eine Geschichte des Checkpoints Charlie als Ort des ›Endes der Geschichte‹ ab; ein kurzer kairós zwischen Aufhebung der Grenze (und der Geschichte) und der geflügelten ›Rückkehr der Geschichte‹ in den 2000er-Jahren.

Vage vertraut ist mir das end of history-Motiv nur in seiner populären Perpetuierung, eine Verortung dieser Chiffre — im Sinne einer ›Topologisierung‹ des Endes der Geschichte — könnte nun einen eigenen Zugang legen, eben am ehemaligen Grenzübergang »für Ausländer«, wie der Checkpoint Charlie auch genannt wurde. Andere Orte — das neu entstandene Regierungsviertel, der Potsdamer Platz — mögen für diesen Versuch geeigneter erscheinen; auch würde sich natürlich das EU-Viertel in Brüssel anbieten, die architektonischen Entwürfe für das Ensemble des Espace Léopold hinter der Place du Luxembourg, heute aufgrund von Baufälligkeit schon wieder von längerfristigen Schließungen betroffen, doch damals im prä- und post-Maastricht (1992)-take-off der EU ein exemplarisches Abbild (Bauzeit 1989-1995) des Willens zur europäischen Integration. Dass diese in eine Krise geriet ist bekannt. Kann man vielleicht von der postmodernen Architektur auf einen damals univoken liberalen laissez-faire-Gestus postmoderner Spielart rückschließen, unter dessen selbstgewisser Ägide sich die Assemblage von Alt und Neu am Bau (und in verführerischer Voraussetzung jene zur EU, was schließlich in doing nachgeholt werden musste/wird, das ›fare gli europei‹) ereignete? Ging es nicht wirklich um diese ›Aufgehobenheit‹ im ›Ungefähren‹ der EU? Auch wenn der Gedanke einer fortschreitenden europäischen Integration verbreitet gewesen sein mochte, fällt es schwer retrospektiv irgendeinen drive von unten dahingehend auszumachen, nicht wahr? — Naja, das ist jetzt auch erstmal wieder eine ignorante, nur selbstgefällige Behauptung, die zu differenzieren und verifizieren wäre. Welche Bedeutung erfährt denn die EU in Philipp Thers Erlebnisbericht/Wirtschaftsgeschichte Ostmitteleuropas nach 1989 (Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, 2014)? Hier ist von der EU-Osterweiterung (2004) als einer »europäischen Vereinigung« [4] die Rede, in Analogie zur vorangegangenen ›deutschen‹, von der EU-Förderung, die erfolgreich soziale und regionale Ungleichheiten anging, aber auch von den politischen Misstönen und Ressentiments sowie vom Wandel in den Ökonomien einzelner Lebensrealitäten. Meine Frage nach der Bevölkerungsdichte eines ›EU-Gefühls‹ droht von retrospektiver Suggestion überformt zu werden, da doch die Akteure eine Gesamtsituation in progress erfuhren. Zurück zum Moment einer nichtwidersprochenen ›Aufhebung‹ der Quästion (wie aller Fragen) mit der Transponierung, der Verlagerung (als ›Entledigung‹) auf eine Metaebene, die sich nur leider mittelfristig als (noch) fiktiv, besser: ›entlegen‹, erwies. Wie bitte verhalte sich dieses postulierte Moment der ›Aufhebung‹ mit den Lebenswelten in progress? Beides ›währet‹ bis zum ›Knick‹ der Krise? Nochmal zur ›Aufhebung‹: ›Posthistoire‹, die ist gedeutet worden »als eine geschichtsphilosophische Form der kollektiven Selbstentlastung« [5], doch was bedeutet das im Einzelfall? Könnte hier von einer ›Aufgabe‹/›Aufhebung‹/›Aufgehobenheit‹ des Denkens des einzelnen als ›Rückfall‹ in sich/auf sich selbst gesprochen werden? Im Sinne einer apologetischen Absage an jeglichen kommunen Movens? ›Aufgehobenheit‹ in der Vereinzelung als ›Einschluss‹/›Preisgabe‹? Spekulationen!

Der Mainzer Historiker Andreas Rödder greift zur Charakterisierung der Postmoderne Zygmunt Baumans Formulierung von der »Zerschlagung der Gewissheit« [6] auf, und was war gewisser als die Sektorengrenze? In den ausgehenden Thesen seines Buches 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart (2015) umreißt er das Gebilde ›Postmoderne‹ mit den Begriffen »Pluralisierung« und »Dekonstruktion«, dabei letzterem die Idee einer »Kultur der Inklusion« als »neue[r] Ganzheitsvorstellung« beigebend (Rödder, 388f.). Wie wirkmächtig ›postmodern‹ der Autor selbst ›Geschichte‹ handhabt, ›autoritär/autoritativ/auktorial‹ Darstellungstränge aufzeigt/ausblendet, zeigt sich in seiner (vielleicht ›vom Kopf auf die Füße‹-)Appropriation Foucaults, den er zum wichtigsten Denker des 20. Jahrhunderts stilisiert, und schließlich, noch viel mehr, in seiner These des »Entschwinden[s] des 20. Jahrhunderts« (ebd., 387). Diese Zeitdiagnose entfaltet eine normative Schubkraft, insofern das unliebsame ›kurze‹ 20. Jahrhundert überbrückt wird durch eine Verknüpfung von erster (»Welt 2.0«, vor 1914) und zweiter Globalisierung (»Welt 3.0«, nach 1973). In diese apologetische Disposition fügt sich das Narrativ von der (Rückkehr der) »deutsche[n] Stärke in Europa« ein: »Und wie lautete die Bilanz einhundert Jahre nach Beginn des Ersten Weltkrieges? Deutschland war wieder die bei weitem stärkste Macht in Europa.« (ebd., 386) Unweigerlich befördert dieser Versuch der Überbrückung, eines Wiederanknüpfens an ›verlorene Fäden‹ der Vorkriegszeit, eine gewisse ›Bypassierung‹ des ›Dazwischenliegendens‹ (1914-1973/2014), was die Perspektive eines ›Abschlusses‹, einer ›Aufhebung‹ aufzeigt.

»Geschichte in diesem Sinn beginne erst jetzt.« [7] Diese Perspektivumkehrung stellte der emeritierte Bonner Philosophieprofessor Wolfgang Kluxen der These F. Fukuyamas vom ›Enden‹ der Geschichte im ›Triumph‹ des Westens entgegen. Wobei dieser Konter klein ›skaliert‹ war, schwer zu finden in einer in indirekter Rede wiedergegebenen Wortmeldung auf der 366. Sitzung der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften am 16. Juni 1993 in Düsseldorf. Doch ›Geschichte‹ in welchem Sinne war damit gemeint? Kluxen konfigurierte hier »Geschichte im Rahmen einer Weltzivilisation« — was man heute vielleicht mit ›Globalgeschichte‹ gleichsetzen könnte — und nannte »Pluralismus« das vorherrschende Merkmal einer solchen. Unter ›Pluralismus‹ wiederum verstand er die Entstehung einer pluralistischen »Weltgesellschaft«, gerade auch in der Form einer globalen »Kommunikationsgemeinschaft, in der jedes Ereignis überall präsent gemacht werde.« In einem Aufsatz von 1994 explizierte er »Kommunikationsgemeinschaft« ferner als einen Modus, »welche[r] partikulare Besonderheiten zugleich freiläßt und in ihrem Wert bestätigt. Solche Kommunikation, als strukturelle Möglichkeit eröffnet, bedeutet einen geschichtlichen Schritt, der nämlich die ›Menschheit‹ — die Summe aller Menschen — geschichtlich konkret ins Spiel bringt, ohne doch die ›Freiheit‹ in der Mannigfaltigkeit ihrer Daseinsmanifestationen aufzuheben.« [8] Das klingt wie eine idealisierte Beschreibung des Internets, des Web 2.0. Konkret steht das social network vor Augen wenn Kluxen schreibt: »In der technischen Welt werden Identitäten nicht aufgehoben, sondern in Konkurrenz gebracht.« Der Pluralismus einer »Weltgesellschaft«, in der »unterschiedliche Identitätsbildungen zur Geltung kommen[, ...] gehöre zur Geschichte im Rahmen einer Weltzivilisation«, so Kluxen, »und Geschichte in diesem Sinn beginne erst jetzt. Die These vom Ende der Geschichte [aber] verkenne diesen notwendigen Pluralismus.« [wie 7]

Fukuyama, hingegen, imaginierte die ›Inhaltsleere‹ posthistorischer Verhältnisse, den ennui des »allseits abgesicherten, egozentrischen letzten Menschen« [9], der zu seinem Drang nach riskanten, aber »inhaltslose[n]« Freizeitaktivitäten führe (no risk no fun). Die wenigen Passagen seines Buches Das Ende der Geschichte (1992), die ich gelesen habe, wirken reaktionär-kulturkritisch, oft befremdlich, teils unfreiwillig komisch. So auch diese schöne Stelle: »Vielleicht besteht ein Potential an Idealismus, das nicht ausgeschöpft, ja nicht einmal angetastet wird, wenn man ein Unternehmer wird wie Donald Trump, ein Bergsteiger wie Reinhold Messner oder ein Politiker wie George Bush. Das Leben dieser Männer ist sicherlich nicht einfach, und sie erfahren viel Anerkennung, aber sie könnten es zweifellos noch schwerer haben und einer noch wichtigeren und gerechteren Sache dienen.« Ließe sich daraus ein Motiv für die ascesa in campo von Berlusconi und Trump (Messner ja letztlich auch, wenn doch peripherer) fabrizieren?

Ebenfalls 1992 entwarf der französische Anthropologe Marc Augé in Non-Lieux. Introduction à une anthropologie de la surmodernité den Gedanken der ›Nicht-Orte‹. Er sprach vom »Tod der Zeit« [10] und davon, dass »der Raum den Sieg davongetragen [habe]«. Entfallen war die Funktion von ›Zeit‹ als Sinnträger, doch auch der Advent der Kategorie des ›Raumes‹ ginge letztlich mit der ›Zersplitterung‹ desselben einher. Die Prärogative des Ereignisses (breaking news) fand auch in Augés Text ihren Niederschlag, dachte er doch den medialisierten »Ereignisraum« als den global vorherrschenden. Auf den Checkpoint Charlie (hello again!) angewendet, lässt sich dieser durchaus als Ereignisraum im Ost-West-Konflikt bestimmen, etwa 1961, doch noch viel mehr scheint er heute zu einem veritablen ›Nicht-Ort‹ verblasst, jenem von Augé gewählten Motiv, das in der Adaption ebenso oft gefühlsmäßig zupasszukommen scheint wie jenes des end of history, ja so etwas wie ein hauntendes (nach Mark Fishers ›hauntology‹-Konzept) merry-go-round-Eigenleben entwickelt hat. ›Nicht-Orte‹ sind für Augé, kurz gesagt, »Orte der Passage und des Übergangs« [11], womit ein (ehemaliger) Grenzübergang doch tatsächlich ein non-lieu par excellence wäre. Das einzige was sich hier, in loco, noch ereignet beziehungsweise täglich begibt ist das Aufkommen, die Auffahrt der Touristen (als Wallfahrt) und ihre Aufführung des Dogmas der »Reisefreiheit« an diesem ›Nicht-Ort‹, der dadurch vielleicht zu so etwas wie einem Erinnerungsort wird und die Geste des ungehinderten Zu- und Abgangs zu einem ›gedächtnisvollen‹ enactment der »Reisefreiheit«, einer Freiheit, die nach Augé »zum Inbegriff der Freiheit [überhaupt] geworden [sei]«. Die Reisefreiheit ist die Freiheit des Touristen und in der Figur des Touristen manifestiert sich der (temporäre) »Verlust der Territorialität«, insofern der Tourist derjenige ist, der nicht arbeitet, der nicht ›ackert‹, der nicht alttestamentarisch mit dem Boden verbunden ist. Man müsste einmal jene fragen, die an diesem ›Nicht-Ort‹ ›Checkpoint Charlie‹ täglich arbeiten. Gelingt jenen eine sinnvolle Verbindung mit diesem Ort?

»Berlin is the perfect city in which to contemplate an alternate Western reality. This is the logical result of losing back-to-back world wars before enduring another 45 years of the most repressive police state ever created« [12]. So stand es letztes Jahr in einer Pitchfork-Reportage. Dem Ort ›Berlin‹ wurde hier die Qualität eines systemfernen, alternativen ›Möglichkeitsraums‹ zugesprochen. Ich würde diesen Gemeinplatz anzweifeln wollen, jedenfalls scheint diese Qualität keineswegs auf den Checkpoint Charlie zuzutreffen. Dieser wirkt doch eher wie ein müdes, ›brachvolles‹ Memorial seiner selbst und des vergangenen kairós nach dem Ost-West-Konflikt, der Verlust einer Qualität eines Ortes, sei es jene des ›Ereignisraums‹, sei es jene des alternativen ›Möglichkeitkeitsraums‹, bis zuletzt nur noch jene ›Nicht-Qualität‹ des ›Nicht-Orts‹ übrig bleibt, wie in einer tristen, schleifenden Zeitschleife.

In der Adventszeit ›prorompiert‹ zusätzlich ein großer Weihnachtsbaum von der Verkehrsinsel. Wie ein Plakat an einer nahen Hauswand andeutet (das noch aus dem letzten Jahr stammt), wird dieser wohl alljährlich feierlich vom amerikanischen Botschafter eingeweiht bzw. angeknipst. Bewegung: Touristen verleitet zum gefahrvollen Gang vor den Verkehr der Friedrichstraße; ist der Verkehr, das Ballett der Doppelkreuzung Friedrichstraße/Zimmerstraße und Friedrichstraße/Kochstraße bzw. Rudi-Dutschke-Straße nicht die eigentliche Qualität dieser Lokalität, eben die Reise- und Verkehrsfreiheit — da ist diese eine Ampel, die die Fußgänger diagonal über die Kreuzung führt, was eine Sache! Tokio! —, miteingeschlossen die (kontingentierte) Freiheit des Datenvolumens in den immergleichen Bildern in die cloud von diesem ›Nicht-Ort‹? Und die globalen Apps sind auch ›downgeloadet‹ in die Ladenzeilen in Form der Franchise-Filialen globaler Unternehmen, die sich um das Wachbaracken-Replikat gruppieren: neben McDonald’s etwa Kentucky Fried Chicken, Starbucks, Domino’s Pizza, Murphy’s Irish Pub, Coffee Fellows und Kaffee Einstein. Eine Vertretung des westlichen Kapitalismus, platt gesagt, ist dieser ›Nicht-Ort‹ ›Checkpoint Charlie‹ also auch, mit dem Charme eines Outlet-Villages. Noch dazu mit Marken, die ihren Zenit bereits hinter sich zu haben scheinen.

Interessant ist vielleicht der Aspekt der amerikanischen coffee shop-Kultur und ihrer Adaption hierzulande mit den Marken Coffee Fellows (1999 in München gegründet) und Kaffee Einstein (»Bereits Mitte der 90er Jahre erkannten wir, welche Zukunft der in den 80er Jahren in den USA entstandene Coffee Shop-Trend im europäischen Raum haben würde« [13]). Dahinter: Die leisure-luzide Kultur, die von Seattle ausging, als Paarung von Westküsten-Gegenkultur mit Silicon Valley-Soft- und Hardware für die Welt, handheld — in der einen Hand das iPhone, in der anderen den Pappbecher. Indoor: Das Arbeiten im coffee shop, da man (freelance) keinen eigenen Arbeitsplatz hat, also den coffee shop als workspace okkupiert mit seinem eigenen Laptop. Eine lose Reminiszenz an die prekäre Existenz von Kaffeehausliteraten und -revolutionären im fin de siècle. Das Kaffeehaus (oder das Lokal) als der Ort der Schlafgänger, für die die Schlafstatt nur ein Durchgangsort war. Das Kaffeehaus als Inkubator. So heute coffee shops an Transitorten, die das ›immer auf dem Sprung‹-Sein zelebrieren, in Bahnhöfen, Über- und Unterführungen, malls, an Airportterminals, Raststätten. Die Ambivalenz von cosy und busy, das stoßartige (koffeinshotartige) Performen, alles vor dem Hintergrund — neben der räumlichen Situation des Zwischenraums — von allverfügbarem WLAN/Internet, der sicheren Aufhebung (in der cloud/crowd). Transportiert wurde das schon in größtenteils indoor gedrehten Serien wie Friends, in denen die urbane Metropole immer nur ein unterbewusster backdrop war, den man aber in den Szenen in der WG und im Café spürbar fühlen konnte, diesen notwendigen Hintergrund, diese Evokation. Was war denn Koffein früher? Ich denke an Filterkaffee in beschichteten Styroporbechern in der Haltevorrichtung am Armaturenbrett, an Pocket Coffee und nikotinfarbene Finger, die Nescafé-Portionssticks aus Flanellhemden fingern, Wegzehrung von übermüdeten Fernfahrern. Letztlich westlich-vorherrschend war doch aber sowieso ›Coca-Cola‹ in puncto ›Koffein‹ und nicht der Kaffee, oder?

Da, wo heute eine Einstein-Filiale liegt, im schönen Eckhaus an der Kreuzung Friedrichstraße/Zimmerstraße, war zwischen 1989 (vielleicht auch schon etwas früher) und 2008 das Café Adler drin. 1987 hatte das Land Berlin das historische Gebäude renoviert und die oberen Stockwerke zu Ateliers und Wohnungen für Künstler ausgebaut, der letzte zog wohl erst 2005 aus. [14] Das Café Adler selbst machte im Juni 2008 dicht, als der neue Eigentümer das Haus anscheinend sanieren ließ, jedenfalls ist auf der Google Street View-Aufnahme vom Juli desselben Jahres das Baugerüst deutlich zu sehen, das Café hingegen schon nicht mehr [15]. Dass an der Friedrichstraße, vis à vis der Wachbaracke, tatsächlich einmal Cafégäste auf dem Gehweg an Tischchen saßen, erscheint heute schwer vorstellbar. Dann wäre es ja ein Ort! Nun, das war es (als Ereignisraum!) in der Nacht der Grenzöffnung, als, so heißt es, ein Kellner mit einem Tablett voller Sektgläser die Kontrolleure auf der anderen Seite angesteuert habe, diese aber wenig erfreut gewesen seien. Fortan galt das Café Adler als ein Symbol des jungen, aufregenden Berlins: »Der Fall der Mauer riss das Adler jäh aus der Schläfrigkeit der müden Weltverbesserer, und kurzfristig wurde das Kneipencafé mit den kleinen Marmor- und Holztischen ein Versuchsfeld der Einheit. Durch seine bloße Existenz an diesem magischen Ort entwickelte es eine kolossale Integrationskraft. Von Kreuzberg und Mitte her balancierten Leute über die deutsche Trennlinie aufeinander zu, gingen auf Tuchfühlung, debattierten Schicksalswende und Lebensentwurf und begossen die neue Hoffnung mit Apfelschorle.« [16] Nach der Jahrtausendwende wandelte sich das Lokal zu einem letzten Außenposten inmitten eines sich verändernden Stadtpanoramas, zu einer »Loge mit Blick auf einen räudigen Jahrmarkt der Geschichte« [17]. 2004 traf der Telegraph hier Cathy, eine aufgeregte Amerikanerin mit Zungenpiercing (was damals noch eine zweifache Erwähnung wert war), die Berlin als »a happening place« beschrieb und weiter: »People here are excited by change, by experiment. It is a city in flux, a city without boundaries.« [18] Well, could it possibly get any more postmodern than this? Any more ›Posthistoire‹? Als das Café Adler schließlich schloss, unterschied die französische Berlinkorrespondentin Pascale Hugues im Tagesspiegel klar zwischen dem Café — »Das Café Adler ist ein wahrer Ort des Kalten Krieges, ein Museum, 1000-mal authentischer als der ganze kitschige Krempel auf dem Gehweg gegenüber.« — und der Umgebung — »Es gibt Orte, die werden ihrer Geschichte nicht gerecht.« [19] Früher, hingegen, da »kippte man [am Checkpoint Charlie] in eine andere Welt«. Auch der Kellner selbst kam in diesem Abgesang auf eine Lokalität zu Wort: »Der Kapitalismus kennt keine Gnade. Wir sind nicht mehr von dieser Welt«. Das hat er wirklich gesagt!?

»I came for nostalgia«. Mit welchen Erwartungen Touristen an diesen ›Nicht-Ort‹ kommen verdeutlicht ein Eintrag von »Kevin D« aus »Maple Ridge, Kanada« auf Tripadvisor. Unter dem Titel »Cafe Adler is, sadly, no more!« schrieb er dort vor einem Jahr (in Form einer Bewertung über das Nachfolgelokal Kaffee Einstein): »Imagine an old fashion Europeon Coffee shop. Imagine two rooms filled with wooden tables and an eclectic mix of chairs. The shop is a smoky place with yellowed windows from decades of cigarette smoke and coal spewed out from the heater in corner of the room. Looking out the window one sees wet streets with barb wire and shadows of the guards in trench coats holding riffles. The cloak and dagger days are over, the Cold War atmosphere is long gone. I came hoping to see secret agents taking shots of vodka looking out the window. Sadly, there exists a modern day expensive busy coffee shop. The character is very different form years ago, it is however safer and probably family friendly. I came for nostalgia.« [20]

Die Mauer ist verschwunden. Zwei verlorene Mauerteilstücke stehen für Fotos bereit, der Zwischenraum ist freigelassen, damit sich die Touristen zwischen die beiden Teilstücke wie zwischen zwei antike Säulen stellen können. Die apertura des Café Adler könnte als Aufscheinen einer Möglichkeit gedacht werden, der dem Anschein nach leichtfertige Übergang des Gebäudes in Privatbesitz 2002 als Ende eines verheißungsvollen Modus des Endes der Geschichte, als Geschichte der leidigen Lokalität ›Grenzübergang‹, als Ende des Kalten Krieges, Wegfall der Grenzen, ein revival (letztlich bloß als Marx'sche ›Farce‹?) eines ›Schaut auf diese Stadt!‹-Berlins. Heute hat der Checkpoint Charlie höchstens noch eine Spur nostalgischen Charakters, wie der Ruß auf den Plakaten und Schautafeln. In der Gegenrichtung, das kurze Stück der Mauerstraße zwischen Friedrichstraße und Schützenstraße sieht aus wie ein Straßenzug aus einer Kulissenstadt für einen Filmdreh, unecht. Die Friedrichstraße weiter hinunter steht das Russische Haus, baufällig, mit Fangnetzen vor der Fassade. Das, was jahrelang Brache war im ehemaligen Grenzstreifen, füllen heute pop up-Blasen wie die Panorama-Ausstellung The Wall, die mit Sprüchen wie »Discover the Berlin Wall on a fictitious day in the Eighties« beworben wird — Baudrillard hätte vielleicht seine Freude an derlei Simulationen. Auf der anderen Straßenseite steht mit einem »Öffentliche[n] Münzfernsprecher« unbeachtet ein greifbareres Relikt vergangener Zeiten. Pick up the phone, dial H-I-S-T-O-R-Y (1997, Regie: Johan Grimonprez), and see: Tomorrow Never Dies (UK 1997, Regie: Roger Spottiswoode).


2017-12-22
essay, berlin


[1] https://www.bz-berlin.de/berlin/mitte/so-gut-verdienen-die-schauspiel-soldaten-am-checkpoint-charlie
[2] https://weltreise-info.de/forum/index.php?topic=3164.0
[3] http://www.bpb.de/apuz/238846/geschichte-im-computerspiel?p=all; ebenso Eugen Pfister, Cold War Games™. Der Kalte-Krieg-Diskurs im digitalen Spiel, in: Portal Militärgeschichte, 10.4.2017, über http://portal-militaergeschichte.de/pfister_coldwargames.
[4] Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, Berlin 2014, S. 330.
[5] Dieter Langewiesche, ›Postmoderne‹ als Ende der ›Moderne‹? Überlegungen eines Historikers in einem interdisziplinären Gespräch, in: ders., Zeitwende. Geschichtsdenken heute, hg. v. Nikolaus Buschmann u. Ute Planert, Göttingen 2008, 69-84, 71.
[6] Andreas Rödder, 21.0. Eine kurze Geschichte der Gegenwart, München 2. Auflage 2015, 107.
[7] Die Bemerkungen Wolfgang Kluxens sind wiedergegeben im Nachwort von Otto Pöggeler, Ein Ende der Geschichte? Von Hegel zu Fukuyama (=Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge, G 332), Opladen 1995, 30.
[8] Wolfgang Kluxen, Europas Identität und seine philosophische Erbschaft [1994], in: ders., Moral-Vernunft-Natur. Beiträge zur Ethik, hg. v. Wilhelm Korff u. Paul Mikat, Paderborn 1997, 353-365, 356f.
[9] Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir?, München 1992, 433 sowie 422 (»inhaltslose Aktivitäten«).
[10] Marc Augé, Die Sinnkrise der Gegenwart, in: Andreas Kuhlmann (Hg.), Philosophische Ansichten der Kultur der Moderne, Frankfurt am Main 1994, 33-47, 40 sowie 34 (»hat der Raum den Sieg davongetragen«), 38 (»Ereignisraum«), 40 (»Reisefreiheit«) u. 41 (»Verlust der Territorialität«).
[11] Marc Augé, Die Architektur als Illusion und als Allusion, in: Peter Gente (Hg.), Paul Virilio und die Künste, Berlin 2008, 29-37, 37.
[12] http://pitchfork.com/features/profile/9969-signal-to-noise-one-wild-week-with-bon-ivers-justin-vernon-in-berlin/
[13] https://www.einstein-kaffee.de/de/franchise
[14] https://www.morgenpost.de/printarchiv/berlin/article102487022/Kuenstler-kaempfen-um-ihre-Ateliers-im-Cafe-Adler-Haus.html
[15] https://www.google.de/maps/@52.5076031,13.3902395,3a,75y,209.46h,83.75t/data=!3m6!1e1!3m4!1sKRUF12K5JASBjTJ5p2_4zA!2e0!7i13312!8i6656?dcr=0
[16] https://www.berliner-zeitung.de/16468930
[17] Jutta Voigt in der ZEIT irgendwann 2003/4, zit. n. https://books.google.de/books?id=adqzeh8BrxwC&lpg=PA151&ots=R0eh-m8f9J&dq=cafe%20adler%20checkpoint%20charlie&hl=de&pg=PA151#v=onepage&q=cafe%20adler%20checkpoint%20charlie&f=false
[18] http://www.telegraph.co.uk/travel/destinations/europe/germany/berlin/730007/GermanyGone-and-very-nearly-forgotten.html
[19] http://www.tagesspiegel.de/meinung/mon-berlin-das-cafe-adler-verlaesst-den-amerikanischen-sektor/1198200.html
[20] https://www.tripadvisor.de/ShowUserReviews-g187323-d1009785-r394156832-Einstein_Kaffee-Berlin.html