2019-03-26/28 #buchmesse

Am Globus-Gebouw vorbei, komme ich aus dem Flixbus und blicke auf den BAUHAUS-Parkplatz. Dort reihen sich Gartenhäuser in der Morgensonne. [1] Nicht seit 100 Jahren, höchstens seit 1960. Auf einer Fensterfront des sonst fensterlosen Komplexes klebt, übergroß, ein Poster-Diptychon: links ein Ausschnitt auf blühende Blumenkübel über einem sonnenbeschienenen Terrassenuntergrund, rechts ein Interieur, der Blick auf ein rechteckiges Waschbecken, neben dem, akkurat aufgerollt und von einer Schleife aus bronzenem Seidenimitat umschlossen, Tücher, die eher an Servietten erinnern, zum Händetrocknen bereitliegen, es fehlt nur das Besteck. Zwei über die Posterhöhe gestapelte Bauhauskartons blicken keck ins Freie und schieben gleichsam so über den Glanz von Hotellerie wieder einen Begriff von ›Heimwerken‹ ins Bild. [2] »Da schiebt jeder sein Heimweh wie eine schwere Kiste.« (aus Herta Müllers Atemschaukel). // ›Was du auch machst/wenn's gut werden muss‹.

Sarah Wiener ist vor mir an der Reihe bei der Taschenkontrolle. Beim Verlassen des Messegeländes sehe ich sie wieder, neben Max Moor vor der Kamera sitzen. Im Video sehe ich mich später durchs Bild laufen. [3; bei 03:22] Dazwischen war mir, als hätte ich Thilo Sarrazin bei der taz auf dem Sofa sitzen sehen, doch ich muss mich versehen haben. Im ICE, auf der Rückfahrt, hinter mir bewegte sich Dirk von Lowtzow mit einer gewissen Bedachtsamkeit durch das vollbesetzte Speiseabteil. Wie ich mich im nächsten Wagen umdrehe, lehnt er im Durchgang, neben der Einstiegstür, an seinem Gitarrenkoffer – mir leuchtet sein weißer Schopf [4] wie ein Dachshaar-Rasierpinsel; im Umdrehen sehe ich ein Rasierschaumhäubchen und denke an das erste Eis im Frühjahr.

1 Buch gekauft (19,90 EUR), 3 Kaffee getrunken – 2 davon ausgegeben am hallesaale-Stand in Pappbechern gegen die Angabe der ersten Ziffer meiner Postleitzahl, der erste für 3 EUR im Kantinenbetrieb der Messe, immerhin in einer Tasse –, 1 Visitenkarte bekommen. Ich hatte die vage Vorstellung, dass auf der Buchmesse Bücher angepriesen werden würden, nein, die naive Hoffnung, dass die Buchpreisbindung aufgehoben sein könnte, ja, dass Manuskripte, Ideen und Buchbündel seitenweise wie an einer Börse gehandelt werden würden. Aber nur am Stand der China International Publishing Group sah ich Xi Jinpings China regieren zum Sonderpreis (»30€ 10€«). So wurden da halt Bücher präsentiert. Tendenziell ein wenig enttäuschender als auf einer Kunstmesse. Natürlich, schöne Bücher, die Gestaltung der Vorderseiten, zu bewundern und zum Vergleichen. Große Stände wie cewe Fotobuch. Ich gehe gerne durch Auslagen. Einmal die Verlagsprospekte nicht als PDF, sondern ausgedruckt. Am Stand von Hentrich & Hentrich prangt am Drehständer mit den Titeln der Reihe ›Jüdische Miniaturen‹ vorsichtshalber der Hinweis, dass diese nicht einfach eingesteckt werden dürften. An der Garderobe gab ich meinen schwarzen, viel zu warmen Mantel zur Aufbewahrung ab, doch auch so schwitzte ich in Wolle und durch das Koffein in den Messehallen 4 und 5. Ein Teebeutel Hagebutte blutet die weiße Untertasse voll. Ein Käse-Sandwich zerläuft in seiner Folie.

Ich war am Stand der Friedenauer Presse, wo ich in Alexander von Humboldts Tierleben blätterte. 4 Postkarten mit Tiermotiven aus dem Buch nahm ich mit, wobei eine tatsächlich das Verlagslogo, einen Kranich, in einer auseinandergehenden Neuinterpretation zeigte. Naturkunde und Formverlust. Die Cover, die ich aus dem Newsletter kenne, liegen gut in der Hand, nur kaufe ich keines. Jetzt blätter ich wieder im Verlagsprogramm.

Ich gehe zu einer Veranstaltung des Berenberg Verlags. Benjamin Balints Kafkas letzter Prozess wird vorgestellt und die Frage ›Wo gehört Kafka hin?‹ erörtert. Nach Tel Aviv, nach Weimar? Ich stelle mir für Kafkas »Kritzeleien« einen Schrein hineingetrieben in die Chinesische Mauer vor, an einem wenig zugänglichen Abschnitt; ein Pilgerort, ein Dachsbau unter der Mauer hindurch? Beatrice Faßbender und Natascha Freundel auf der Bühne sprechen über das Buch und über Kafka. Kafka wollte mit Dora Diamant ein Restaurant in Tel Aviv eröffnen, dort als Kellner arbeiten. Max Brods frühe Tagebücher sind noch unerschlossen. Auf einem anderen Podium, später, sprechen Steffen Höhne und Alice Stašková über den von ihnen herausgegebenen Sammelband Franz Kafka und die Musik und es heißt, dass Kafka gerne Operetten lauschte. Max Brod vertonte Kafkas Texte, »zu dessen Befremden«. Der Autor, von dessen gestenreicher Sprache (auch im Gegenüber?) Walter Benjamin sprach, interessierte sich auch für die Ergebnisse der lokalen Fußballvereine. Im direkten Vergleich beider Buchdeckel zeigt Kafkas letzter Prozess das interessantere Kafka-Porträt. [5]

Die Pommes XL kosten 6 EUR. Die Sonne scheint. Auf einem anderen Podium moderiert Étienne François zwischen Jörn Leonhard und Maciej Górny. Es geht um beider Bücher zum Ersten Weltkrieg, genauer um beider beider Bücher zum ›langen‹ Ersten Weltkrieg. Beide verorten 1917 als Bruch, als »Binnenschwelle« (Leonhard). Górnys mit Wlodzimierz Borodziej verfasste Darstellung Der vergessene Weltkrieg. Europas Osten 1912–1923 teilt sich in Imperien 1912–1916 und Nationen 1917–1923. Leonhard hat nach Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkriegs (2014), das in Thomas Manns Garten einsetzte, im letzten Jahr Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923 nachgelegt, das an Franz Kafkas Krankenbett seinen Anfang nimmt. Wie lang noch bis zur Lizenzausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung? Und wird auch Górnys und Borodziejs Darstellung hier aufgelegt werden? Werden solche Vereinbarung eigentlich auf der Buchmesse getroffen? Bernd Riexinger wartet schon zur nächsten Veranstaltung – überhaupt ist die Buchmesse ein Schulbeispiel des forciert-fliegenden Wechsels der Podiumsbesetzung –, Étienne François schließt salomonisch mit dem Urteil, dass sich beide Darstellungen ergänzen würden. Eine ältere Frau kracht vom Bistrotisch, dessen Tischplatte unter ihr – zwei kleine Schrauben fliegen weg wie Splitter – vom Standfuß bricht. Denis Scheck grinst von unzähligen Tragetaschen.
»Fehlen Sandsäcke, so ist der Graben mit Erde, auch feindlichen Leichen zu verstopfen«, lautet ein Zitat, das Leonhard in der Büchse der Pandora (Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn 2014, S. 550) anführt, um die Reduzierung des menschlichen Körpers auf ›Füllmaterial‹ zu belegen. Er zitiert hier nach »Raths, Die Überlegenheit der Verteidigung, S. 396« und übernimmt damit auch dessen falschen Nachweis, wonach sich der Satz in den »Vorschriften für den Stellungskrieg aller Waffen, Bd. 2, S. 69« fände. Tatsächlich hat die betreffende Veröffentlichung jedoch nur 36 Seiten. Sie ist indes nach Absätzen gegliedert und es mag sein, dass Raths in seinen Exzerpten dadurch durcheinander kam, dass in Absatz 69 auf Seite 33 auch von »Sandsäcken« als Füllmaterial die Rede ist, siehe Vorschriften für den Stellungskrieg für alle Waffen. Teil 2. Minenkrieg. Vom 19. April 1916. Herausgegeben vom Kriegsministerium. Berlin 1916, S. 33. Der gesuchte Satz findet sich stattdessen in den Richtlinien für die Ausbildung des Kriegsersatzes 1916. Bearbeitet und hg. vom Kommando des Ersatzbataillons 2. Garde-Reserve-Regiments. Zweite, vervollständigte Auflage (4.–13. Tausend). Berlin 1916, S. 69. Nicht minder interessant ist dabei vielleicht der direkt darauffolgende Satz: »Das rasche Hinauswerfen der Gefallenen aus dem Graben ist auch wichtig und zu üben.«

Donauschwaben der poppige Titel des Bandes, den ich schließlich kaufte, der nun weiterhin verschweißt in meinem Zimmer liegt. Ich war bei der Buchvorstellung und dachte mir den Band als Völkermühle Europas. Migrationen an Rhein und Mosel, dessen Cover ich (im Prospekt) auf dem Historikertag bewundert hatte, das ich immer wieder vor mir sehe, – nur für die Donau. [an diesem Punkt kickt Egyptrixx’ ›Liberation Front‹ rein, bei mir beim Schreiben; spätere Höhepunkte des Wiedergabeverlaufs sind ›September (Hesse)‹ von Richard Strauss, Elvis Presleys ›Never Been to Spain‹; davor schon ›IntroXXXWar‹, der Opener des Albums IN.RAK.DUST~~] Der Einband ist nicht schön, wobei, mit dem Abstand aus der dritten oder vierten Reihe, mit dem ich das Buch auf dem Podium aufgestellt sah, wirkte es anziehend. Ich werde es öffnen und reinschauen, … es duftet, die Seiten voller Abbildungen. Die Bezeichnung ›Donauschwaben‹ wurde erst nach dem Ersten Weltkrieg erfunden und hat damit vielleicht dieselbe Aussagekraft wie das in Berlin zirkulierende Begriffsverständnis von ›Schwaben‹. Bezeichnend auch, dass ein sogenanntes donauschwäbisches Wappen erst 1950 entworfen wurde, von einem »gebürtigen Banater Schwaben [...] in seiner neuen Heimat, der Bundesrepublik Deutschland«, für die ›Heimattreffen‹ sozusagen. [6] Ulmer Schachtel und Atemschaukel. 1954 schuf Max Bill an der Ulmer Hochschule für Gestaltung den ersten ›Ulmer Hocker‹. »1927–1928 studierte er in Dessau am Bauhaus, wo zu dieser Zeit Josef Albers, Wassily Kandinsky, Paul Klee, László Moholy-Nagy und Oskar Schlemmer lehrten.« Dass ein Kamel unter dem Ulmer Hocker hindurchgehe. [7]



[1] /img/IMG_1012.JPG [durch die Flixbus-Scheibe]
[2] /img/IMG_buchmesse1.png
[3] http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/videosextern/ein-gespraech-mit-sarah-wiener-ueber-bienen-102.html
[4] https://p5.focus.de/img/fotos/origs10491629/034851177-w630-h472-o-q75-p5/urn-newsml-dpa-com-20090101-190322-99-499679-large-4-3.jpg
[5] https://www.berenberg-verlag.de/programm/kafkas-letzter-prozess/
[6] Gerhard Seewann und Michael Portmann, Donauschwaben. Deutsche Siedler in Südosteuropa. Potsdam 2018, S. 17.
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Max_Bill