über den Historikertag 2018
Gesucht, auf diesem Historikertag – dem 52., vom 25. bis 28. September in Münster –, war der/die engagierte Historiker/in: Lutz Raphael hatte im Juli bereits mit einem differenzierten Beitrag [1] im Blog des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) einen vielversprechenden Auftakt gemacht. Nun diskutierte er als Teil eines neunköpfigen Podiums, das wohl in Anlehnung an seinen ›Auszug aus der Komfortzone?‹ betitelten Kommentar mit ›Die Komfortzone verlassen?‹ überschrieben war. Die stellenweise leicht erratische Diskussion – etwa in der Frage bei welchen Diskussionsteilnehmenden eine Spaltung in Bürger/in-pars und Historiker/in-pars bestünde – konzentrierte sich zuletzt auf den vorliegenden Entwurf einer »Resolution zu gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie« [2], der anderntags in der Mitgliederversammlung des VHD dann auch eine Mehrheit finden sollte: War diese Stellungnahme nun zu harmlos? War sie zu politisch? Würde es schon ausreichen, im Fachkonsens eine Auswahl an »Grundhaltungen« [2] zu bekräftigen oder war es nicht vielmehr Zeit für eine erste Ursachenforschung, für die Frage, wie es so weit hatte kommen können? Wäre es nicht überhaupt angebracht, ein offensives Bekenntnis zu den normativen Grundbedingungen des eigenen geschichtswissenschaftlichen Arbeitens hierzulande abzugeben? Dass diese in anderen, autoritär regierten Ländern sehr viel prekärer wären, daran erinnerte der Osteuropahistoriker Jan C. Behrends mit der Bemerkung, wonach die Komfortzone »an Oder und Neiße« ende. Behrends warb für mehr grenzüberschreitendes fachliches Engagement, in Netzwerken wie ›Historiker ohne Grenzen‹ oder dem aus der ›Berlin-Brandenburg Ukraine Initiative‹ hervorgegangenen Forum ›Prisma Ukraïna‹. [3]

Diskutiert wurde nicht zuletzt auch über das Verhältnis von Historiker*innen zu ›den‹ Medien, wobei auch Vorurteile zur Sprache kamen: Könne auf die notwendige Gabe zur Differenzierung beim Gegenüber vertraut werden? Wären nicht Historiker*innen generell darauf aus, große Erzählungen zu dekonstruieren, wohingegen die Medien gerade auf diese zurückgriffen? Guido Knopp schwebte abgehangen als Watschenmann über dem Podium. So war zwar der Historikertag 2018 erstmals mit einer eigenen App ausgestattet – die kurioserweise mit einem eigenen Chat suggerierte, dass jede/r, die/der die App startete, nun Christopher Clark (oder jedwede/n andere/n auftretende/n Historiker/in) einfach anchatten könne –, aber was die mitunter problematische Medialisierung von ›Geschichte‹ anging, wurde weiterhin Knopp hingehängt und über die Differenzierungsfähigkeit der Bild-Zeitung gestritten. Dabei hatte Raphael im Juli bereits gefordert, die »Verschiebungen ernst [zu] nehmen, die sich zurzeit im Feld der politischen Kommunikation vollziehen«, wobei es »ebenso sehr um Formate wie um Inhalte« [1] zu gehen habe. Einzig Uffa Jensen vom Zentrum für Antisemitismusforschung wies auf dem Podium auf die medialen Strategien der AfD hin und die Gefahr, sich diesen im Sinne einer »Erregungsdemokratie« auszuliefern.

Andere Friktionen traten indes im Verhältnis von Promovierenden und Promovierten zutage, was zu einem offenen Briefwechsel [4] und einem Beinahe-Eklat bei der Preisverleihung im Posterwettbewerb des Doktorandenforums führte(, auch die nach Ulrich Raulffs Vortrag eingemummelt schlummernden Gäste wieder Hälse recken ließ). Weit weniger beachtet und spärlicher gesät – man könnte hier eher das Kirchentagsmotto von 2009, ›Mensch, wo bist du?‹, in Erinnerung rufen – waren die Studierenden, die sich, nach meinem Eindruck, nur recht vereinzelt in die Sektionen verirrten. Tout court: Der Historikertag ist keine Veranstaltung für Studierende. Er ist, polemisch gesagt, ein ›Klassentreffen‹ von Historiker*innen, die drumherum in Sektionen ihre bereits vielfach in Kolloquien erprobten Vorträge hier, womöglich geringfügig dem Leitthema angepasst, verlesen, woraufhin sich nach einer Abfolge von üblicherweise vier Vorträgen ein meist bereits vorformulierter Kommentar anschließt, woran sich schließlich eine kurze Diskussion anfügt, die immer unter dem Vorbehalt der unbedingt mit einer »Punktlandung« zu terminierenden, mittlerweile gleich ablaufenden, für gewöhnlich ohne Unterbrechung durchgezogenen Dreistundenfrist steht. Gerne auch: ›Es gibt Probleme mit dem Beamer.‹ Aber danke, ›eduroam‹, immer alles gut!

Studierende waren beim Historikertag also rar. Dabei fand sogar erstmals ein von der Fachschaft initiiertes ›Studierenden-Panel‹ statt – mit sogar zwei Promovierenden im Publikum. Unter der Leitung von Matthias Sandberg und Christoph Lorke (promoviert!) stellten drei Studierende ihre Forschungsprojekte vor: Es ging um die Darwin-Rezeption bei St. George Mivart (On the Genesis of Species, 1871), um »Muster der Ethnisierung von Sexismus im medialen Diskurs der 1970er und 1980er Jahre in der BRD« und um serbische Geschichtspolitik (u. a. mit einer Auswertung von Online-Kommentaren). Diskutiert wurde nicht nur über die Vorträge, über unterschiedliche Methoden geschichtswissenschaftlichen Arbeitens (historische Diskursanalyse, Oral History) allgemein, sondern auch über den Historikertag aus studentischer Perspektive.

Was mir als Student dann wiederum ganz entgangen war, ist das Schülerprogramm des diesjährigen Historikertags: »Der Hörsaal H1 ist proppenvoll. Hunderte Schüler sind gekommen, um am Schülerprogramm des 52. Deutschen Historikertages teilzunehmen«, schrieben die Westfälischen Nachrichten [5], was der Historikertag auf Twitter (›@historikertag‹) wiederum mit dem Hashtag ›#nachwuchsrockt‹ versehen teilte.

›Gespaltene Gesellschaften‹ – bisweilen leidiges Leitthema des Historikertags: Hatte bereits Wolfgang Schäuble in seiner Rede bei der Eröffnungsfeier einem daraus vermeintlich abzuleitenden Ruf nach einer »homogenen« Gesellschaft eine Absage erteilt, so versuchten sich im weiteren Verlauf des Historikertags andere am Aufzeigen einer positiveren Vision eines begrifflichen Gegenstücks zu ›Spaltung‹: »Solidarität« (Anna Karla), »Differenzierung« (Rudolf Stichweh) lauteten zwei Vorschläge. Thomas Mergel definierte ›Spaltung‹ als »eindeutige Differenzierung eines Teils der Gesellschaft von einem anderen«, nicht entlang eines Kontinuums, sondern diskontinuierlich. Stichweh, Soziologe, unterschied daran anschließend drei Mechanismen der Spaltung: »persistente, diskontinuierliche Ungleichheit«, »asymmetrische Abhängigkeit« und »inkludierende Exklusion«. In Mergels Einführung schien zuletzt ›Konsum‹ als das die Gesellschaft letztlich einende / versöhnende / befriedigende Element aufzuscheinen. (Erinnert das nicht ein wenig an die posthistorische »Haltung des Endverbrauchers« [6], die Peter Sloterdijk im Rückgriff auf Max Stirner ausmacht?) In derselben Sektion lancierte der Frühneuzeithistoriker Peter Burschel die These von der Geburt der Moderne aus dem Geist religiöser Spaltung.

In der Sektion ›Mussolini transnational‹ wurde der Versuch einer »doppelten Entgrenzung« (Daniel Hedinger) der Erforschung globaler Faschismen unternommen, d. h. ohne zeitliche Begrenzung auf die Zwischenkriegszeit und den Zweiten Weltkrieg und unter Berücksichtigung der globalen Rezeption des Faschismus. Dieser könne als »Verflechtungsgeschichte« – etwa im japanisch-italienischen Fall – untersucht, aber auch als »Produkt gesteigerter Globalität in der Zwischenkriegszeit« wie als »Träger von Globalisierung« verstanden werden: Mussolini als »media celebrity« (Janis Mimura), nicht nur in Japan sondern weltweit. Die Audienz bei Mussolini wurde für Mächtige und Berühmte Teil einer neuen ›Grand Tour‹ durch Italien, wie Lutz Klinkhammer berichtete. »In India there are no fascists«, versuchte Jawaharlal Nehru 1938 in einem Interview zu beruhigen, wie Maria Framke in ihrem Vortrag über die Wahrnehmung des faschistischen Italiens in Indien berichtete. »We are very well aware of what Berlin, Rome and Tokyo want but we shall never allow the forces of our national anti-imperialist movement to be harnessed to their carriage«, versicherte Nehru weiter. [7] In dieser ›nationalen anti-imperialistischen Bewegung‹, die indes die internationale Vernetzung suchte, war der Unmut über den Völkerbund verbreitet, weswegen Alternativen wie die ›League against Imperialism‹ bzw. ›League of oppressed Nations‹ [8] Unterstützung fanden – eine Linie, die sich vielleicht bis in D'Annunzios Fiume-Laboratorium 1919 zurückverfolgen ließe, wo sie als ›Lega di Fiume‹ bzw. ›Lega dei Popoli Oppressi‹ [9] durchaus ein internationales Interesse fand, und sich im Folgenden vielgestaltig durch die Zwischenkriegszeit zog: in der Weimarer Republik vorzufinden in der Forderung des NSDAP-Mitglieds Gregor Strasser nach einem »›Völkerbund der Entrechteten‹ unter deutscher Führung« [10] im Völkischen Beobachter 1925 oder bei KPD-Mitglied Willi Münzenberg, der zur selben Zeit in Berlin eine internationale ›Liga gegen koloniale Unterdrückung‹ [11] gründete (um nur zwei Perspektiven aufzuzeigen). Die Idee hatte schließlich auch Einfluss auf die Entstehung der Bewegung der blockfreien Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg. [8]

Italien im 19. Jahrhundert betreffend blieben mir aus der Sektion die Begriffe ›Lokalismus‹ und ›Campanilismus‹ als konkurrierende Bindungen zur letztendlich erfolgreichen ›Integrationsideologie‹ des Nationalismus im Gedächtnis. Auch von den »piccole patrie« war die Rede. Ein anderer Topos – der ›Eklektizismus‹, den Antonio Canova und Ludwig I. von Bayern je bei der Einrichtung ihrer »Nationalpantheons« (Eveline Bouwers) an den Tag legten – ließe sich vielleicht fruchtbringend damit in Beziehung setzen. Ist nicht auch der Nationalismus vielleicht eingangs als Eklektizismus überregional vernetzter Privilegierter zu begreifen? Eklektizismus als Privileg des homo optionis? Und kommentierte – und reklamierte damit für sich – dann nicht eine bürgerliche Öffentlichkeit zusehends die Walhalla-Bestückungspraxis des bayerischen Königs? Kann nicht durch die Kontraposition von ›Campanilismus‹ mit ›Eklektizismus‹ eine Rückbindung der Diskurse des Nationalen versucht werden? D. i. die Konstruktion des Nationalen, ihre ›Erfindung‹, ›Bestückung‹? Und: Das Pantheon als imaginäres Parlament der Besten? Wer landet im Depot, wer wird ausgestellt?

Burschels These und Stichwehs Bemerkung aufgreifend, gehen dann ›Differenz‹, ›Eklektizismus‹, ›Optionen‹ als ›Momente des Modernen‹ in dieselbe Richtung? Ist ›Spaltung‹, ist ›Differenzierung‹ eine Form der Anwesenheit in der / Teilhabe an der Moderne? Spaltung als Form der Differenzierung (Ausdifferenzierung) in der Moderne? »Dispersion führt dazu, daß es keine Instanz mehr gibt, ›die im Stande wäre, all diese [...] Funktionen in für die Mehrzahl der Zeitgenossen plausibler Weise zugleich zu erfüllen; in diesem Sinne gibt es 'Religion' nicht mehr‹.« [12] Gleichzeitig aber auch die gegenläufigen Momente der Entdifferenzierung, der Verengung, Vermengung, der Unfreiheit, der Innovation und des Synkretismus etwa des Fundamentalismus, der Farce und des Pastiche?

Das ›Globale‹ – das ›Pauschal-Globale‹ – wurde in den Sektionen gerne abgewatscht, stattdessen: Plädoyers für die europäische Dimension, für den Mikrokosmos, bevor es dann ins Transnationale gehe.

Das 18. Jahrhundert als »black box« (Burschel) aus der Perspektive der Frühen Neuzeit (in Bezug auf die These von der Geburt der Moderne) – und auch vom anderen Ende des (Zahlenstrahl-)Spektrums her, aus dem 19. Jahrhundert, wird das 18. Jahrhundert hoch gehandelt. Ein Vergleich der Reformmodelle in Europa, der ökonomisch begründeten Bereitschaften zur Reform, der vielfachen Aufklärungen im 18. Jahrhundert, wäre, so hieß es etwa in einem Kommentar Ute Planerts, ein spannendes Forschungsprojekt, nicht zuletzt als Vorgeschichte zu den napoleonischen Reformen, so dass Napoleon als Anfang relativiert werden würde. Das 18. Jahrhundert also als das spannende ›Dazwischen‹?

Vor der Sektion ›Fleisch (nicht) essen‹ am Freitagnachmittag aß ich noch schnell in der Mensa im Untergeschoss einen Teller ›Lasagne Bolognese‹ – das letzte verbliebene Gericht zur Auswahl – und stieß dann mehrfach auf in der Sektion, im inwendigen Miterleben des Gehörten: von bundesrepublikanischen Zweinutzungsrindern, »unfreiwilligen Vegetarier_innen« (Laura-Elena Keck) im Kaiserreich zu den Konjunkturen des hiesigen Verzehrs von Hundefleisch (mit München als Hochburg um 1900).
Da spürte materiell-semiotisch Mieke Roscher der Historizität von Fleisch nach in ihrem Vortrag ›Was ist Fleisch?‹, der Entstehung von ›Fleisch‹ als kulturellem Prozess, gekennzeichnet durch die Aufteilung von Produktion und Konsum.
Bei Veronika Settele ging es um die Ankunft des Steakhouse in Deutschland, um Kühe als Steaklieferanten – nicht mehr »Zweinutzungsrindern« –, um die »Färsenvornutzung«, um die ›Revolution im (Kuh)Stall‹, weswegen an dieser Stelle auch auf die entsprechende Episode in Philipp Janssens Podcast-Reihe ›Anno Punkt Punkt Punkt‹ verwiesen sei. [13]

Wilde Ameisen, die nach Zitrone schmecken. Mehr nicht als dieses Detail blieb mir im Gedächtnis von Ulrich Raulffs langsamen, löchrigen Vortrag beim Festakt in der kalten Überwasserkirche Münsters am Abend des 27. September. Ob er indes aus eigener Erfahrung sprach oder aus dem Wissen von Überlebenskünstler(inne)n referierte? Zum Leitbegriffspaar ›Einsamkeit und Freiheit‹ – so der Titel des Vortrags – müsse ein Drittes gedacht werden: die Geselligkeit. Tage später las ich sein erstes Interview als neuer Präsident des Instituts für Auslandsbeziehungen: Hier variierte er die beiden Begriffe zu »Kultur und Freiheit« [14] – und kein Wort von wilden Ameisen, die nach Zitrone schmecken.

Ich habe viel gelernt. Danke. [Verbunden mit dem Wunsch diesen eindrücklichen Wahlspruch des damaligen CSU-Kandidaten für die Münchener Kommunalwahlen von 2014, Josef Schmid, dem schlummernden Vergessen zu entreißen – damals kontrastiert von dem nicht minder faszinierenden ›Damit München München bleibt‹ des SPD-Kandidaten, was sich, nebenbei gesagt, wohl in der MVG-Kampagne ›Weil's einfach einfach besser ist!‹ fortsetzen konnte (was wiederum wohl erst nach dem Verschwinden des Mobilfunkanbieters simyo und dessen Claims ›Weil einfach einfach einfach ist‹ zulässig geworden war) –;] mit dieser Handreichung an der Hand folgt hier nun eine lose Auflistung von mir bis dato unbekannten Begriffen, die ich vom Historikertag mitnehme (wie die wilden Ameisen, die nach Zitrone schmecken!): (1.) die »Färsenvornutzung« (eine Praxis aus der Mast weiblicher Rinder, siehe Podcast-Link oben), (2.) die »Identitätscontainer« (Forschungsansatz für das 19. Jhd.), (3.) die »Erregungsdemokratie« (für die Gegenwart, siehe weiter oben). (4.) Bonus: »Unserdeutsch« (eine sogenannte Kreolsprache, gesehen und gehört in der Ausstellung ›Aus Westfalen in die Südsee‹).

Und wieso der Paradiesvogel ›Paradiesvogel‹ heißt? Da präparierte Exemplare der Vögel als sogenannte Bälge aus Ozeanien ohne Füße, sozusagen ›entbeint‹, nach Europa geschickt wurden, entsponn sich hier der Mythos, dass diese Vögel nie ruhten, immer nur fliegen und immer höher und damit näher ans Paradies. Wohl wollen sie nur nicht in die europäischen Taxonomien bestückt werden!

Die rote ›Historikertags‹-Tasche und ihr Inhalt: Wie gesagt, es gab zwar eine App, aber was den Besucher(inne)n bei der Anmeldung ausgehändigt wurde konnte nur als Manifest der Dinglichkeit verstanden werden – im Sinne eines ›Druckerzeugnisse sind besser!‹ –, dermaßen zog es zentnerschwer am Arm, die Flut an Werbebroschüren, zumeist Verlagsprogramme, in der roten Stofftasche. Am Freitagnachmittag, nach der Flut, bei Ebbe zeigte sich dann, das viel davon in den Nischen des Fürstenberghauses zurückgelassen worden war. Noch nachts in einem Büchertauschregal in der Innenstadt flogen mir die Prospekte entgegen. Ja, ich habe sie alle durchgesehen: von den großen Namen wie C.H.Beck zu kleineren Häusern wie Kröner oder Waxmann. Wie viele Titel da in diesem Jahr verlegt wurden! Was ein weites Feld die Geschichtswissenschaften in all ihren Sub- und Nachbardisziplinen! Ob nun der Gang durch die beiden weißen, freudlosen Zelte mit den Verlagsständen – aber in einem duftete es immerhin nach Kaffee! – oder das Blättern in den Broschüren gewinnbringender war? Beides, ja, beides bot Anlass zu Überlegungen über die Gestaltung von Buchcovern:
(1.) Bestechend ist da gleich einmal das faszinierend-ungesunde Türkisblau, das die Cover der von Norbert Frei herausgegebenen Reihe ›Die Deutschen und der Nationalsozialismus‹ [15] grundiert. Ein starkes Stilmittel! Hoher Wiedererkennungswert! Wie ein nicht zu stoppender Ausfluss aus dem I.G.-Farben-Prozess, den immer wieder nachsickernden Unvorstellbarkeiten. Diese Farbe sollte unbedingt auch auf dem Cover des nächsten Buches – das dann Die Erfindung der Roten Armee Fraktion durch einen manisch-depressiven Teenager im Sommer 1969 und Direkt danach und kurz davor zur Trilogie erweitert – von Frank Witzel auftauchen. Wenn auch nicht im Farbton, so doch in der Eindrücklichkeit erinnert dieses Türkisblau an die Praxis, die Fingerkuppen von Wähler/inne/n in bestimmten Staaten mit Tinte zu markieren. Einen gewissen Wiedererkennungswert besitzen natürlich auch die Cover der Reihen ›C.H.Beck Wissen‹ und ›Historische Einführungen‹ (Campus Verlag; wobei ich immer einen Bindestrich zwischen Name und ›Verlag‹ setzen möchte).
(2.) Die angesagtesten Titel indes hat wohl Mohr Siebeck im Programm mit Schreiben im Forschen. Verfahren, Szenen, Effekte (2018), Wahrheit zurichten (2018) und Epistemische Tugenden (vsl. Januar 2019). Letzteres ziert eine tolle Fotografie des »klugen Hans« in einem Berliner Hinterhof um 1907. [16] Unter diesem Namen wurde ein Pferd bekannt, das vermeintlich Rechenaufgaben lösen konnte, letztlich jedoch dem sogenannten ›Kluger-Hans-Effekt‹ [17] in der Verhaltensforschung den Namen gab. Im Ersten Weltkrieg wurde der ›kluge Hans‹ eingezogen und starb 1916 »unter ungeklärten Umständen« (im weiten Feld). [17]
(3.) Und was haben andere Verlage so im Programm? Im Schwabe Verlag erscheint im Oktober 2018 die Aktenedition über den Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent 1782 (»Ca. sFr. 68.–«; wobei ich mir den Prospekt des Schwabe Verlags direkt am Stand geholt habe, der war nicht in der Tasche). Weniger zumutbar scheint ein in diesem Jahr im Aschendorff Verlag erscheinendes Buch mit dem ausufernden Titel Wieder nichts Neues über Hitler aber alles, was man über ihn weiß (und wert ist, gewusst zu werden,) auf 248 Seiten von Volker Hentschel, der im ersten Halbsatz vielleicht noch an dürftige Comedy erinnern mag, mit den weiteren Einschüben – ich gestehe, dass ich stilistisch auch nicht frei von solchen bin – aber zunehmend dazu führt, dass ich mich an der Methodik aus dem Band Biographien aus der Reihe ›Historische Einführungen‹ festzuhalten suche. Noch schwieriger wird es dann in der Verlagsankündigung, einem stolpernden Text, der schwankt zwischen Groteske und Umständlichkeiten: »Adolf Hitler ist wegen eines bedauerlichen Mangels an verlässlichen Lebenszeugnissen biographisch nur unzureichend zugänglich. Dennoch erscheinen wieder und wieder dicke Bücher, die als Lebensgeschichten Hitlers etikettiert sind. Ihre Verfasser setzen sich über die relative Geringfügigkeit und absolute Abgedroschenheit des über Hitler Bekannten durch zweierlei hinweg: zum einen dadurch, dass sie weniger Hitlers Leben, als die Bedingungen und Konsequenzen seines politischen Werdens und Seins beschreiben, und zum andern dadurch, dass sie Hitlers Persönlichkeit unter dem Anschein von ›Originalität‹ neu zu deuten vorgeben – beides mit einem verbalen Aufwand, der das Rezeptionsvermögen der Leser übermäßig strapaziert. Die bedenkliche Folge davon ist, dass die Zunahme an Hitler-Biographen das Wissen über Hitler nicht nur nicht erweitert, sondern zusehends verflüssigt und Hitler als eher fiktionale denn reale Figur erscheinen lässt.« [18] Spätestens an dieser Stelle würde ich entschieden Einspruch anmelden und stattdessen – aus der Vielzahl an erwähnenswerten Hitler-Biographien – auf Thomas Sandkühlers Adolf H. Lebensweg eines Diktators von 2015 verweisen, das mir geeignet scheint, um denen im Text undeutlich vorgebrachten Vorhaltungen zu begegnen. Es mag zwar nicht zulässig sein, ein Buch zu kritisieren ohne es gelesen zu haben, doch bietet hier vielleicht schon die unglückliche Verlagsankündigung gebührenden Anlass dazu.
(4.) Was noch? Beim Blick auf die ›Krieg in der Geschichte‹-Reihe bei Schöningh fällt mir auf, dass deren legendäres Akronym ›KRiG‹ wohl leider nicht mehr in Verwendung ist. Unter den Neuerscheinungen im Franz Steiner Verlag – lange alles andere als ein Garant für die ansprechende Gestaltung von Einbänden (Nachtrag: Hier habe ich den Franz Steiner Verlag mit dem Verlag Peter Lang verwechselt, pardon. War es doch zumeist die lieblose Umschlaggestaltung der Veröffentlichungen des letzteren, die mir, gerade wenn ich an hier in den 1990er Jahren publizierte Dissertationen denke, im Gedächtnis geblieben ist.) – sticht der Sammelband Völkermühle Europas. Migrationen an Rhein und Mosel, hg. von Michael Matheus, heraus. Nicht nur wegen des Themas sondern auch wegen des irgendwie schönen Gemäldeausschnitts auf dem Cover, eine Miniatur, fragil auf splittriges Holz gemalt. [19] Im Verlag C.H.Beck liefern sich derweil im 144 Seiten starken ›Gesamtverzeichnis 2019‹ der Sektionen ›Literatur, Sachbuch, Wissenschaft‹ zwei Schwergewichte zum gleichen Preis von 98 Euro ein Duell auf gegenüberliegenden Seiten: Die »4 Bände in Kassette« der Geschichte des Westens (»rd. 4.600 S.«) von Heinrich August Winkler und die »Broschierte Sonderausgabe« von Hans-Ulrich Wehlers Deutscher Gesellschaftsgeschichte (»Rund 4.900 Seiten«). »Auf diesen Fels werde ich…«
(5.) Nicht zu vergessen ist, dass die rote Stofftasche neben den Broschüren auch einen Gutschein für ein Gratisexemplar von Hinnerk Bruhns Max Weber und der Erste Weltkrieg (2017 bei Mohr Siebeck) enthielt! Außerdem ein Gratisexemplar der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift für Ideengeschichte. Deren Titelthema ›ICH‹ ließe sich vielleicht zu den ›Gespaltenen Gesellschaften‹ in Beziehung setzen. Wäre ›ICH‹ ein Kontrapunkt gegen oder ein Archipel im Feld ›Gespaltene Gesellschaften‹?

Als beste Dissertation ausgezeichnet mit dem Hedwig-Hintze-Preis wurde Katharina Kreuder-Sonnen für ihre Arbeit mit dem Titel Wie man Mikroben auf Reisen schickt (2018 bei Mohr Siebeck). Dank Leseprobe [20] lese ich die Einleitung und sehe direkt die mögliche dritte Staffel von Charité vor mir (nur besser! d. h. suggestiver Einstieg, aber dann natürlich fundiert abgesichert).

Unter welcher Bezeichnung wird der nächste Historikertag – 2020 in München – stattfinden? Wird er wieder als ›Historikertag‹ firmieren? (›Historikertag‹ sozusagen als Quellenbegriff?) Oder wird es eine Namensänderung geben? Wird er vielleicht der Selbstbezeichnung des Veranstalters nach zum ›Historiker- und Historikerinnentag‹ werden? (Wobei weitere Varianten denkbar wären wie ›HistorikerInnentag‹, ›Historiker_innentag‹, ›Historiker*innentag‹, ›Historikerinnentag‹, ...) Wird er irgendwie hashtagmäßig abgekürzt zum ›Histotag‹ o. ä.? (Wobei hier wie im diesjährigen offiziellen Hashtag ›#HisTag18‹ – bzw. ›#Histag18‹, ›#histag18‹ – auch, das ›his‹ problematisch verstärkt scheint.)

Eine andere Variante: Was würde es bedeuten, wenn der ›Historikertag‹ mit veränderter, etwa verstärkt schulischer und studentischer Ausrichtung als ›Geschichtstage‹ neu gedacht werden würde? Oder würde das eher in die Domäne der Bundeszentrale für politische Bildung oder von betreffenden Stiftungen wie der Körber Stiftung fallen? Nicht dass die ›VideoDays‹ als ›VideoDays der Geschichtswissenschaften‹ neu erfunden werden sollen, aber könnte nicht auch der Historikertag von jüngeren Formaten wie jenen im europäischen »Geschichtsnetzwerk« [21] ›EUSTORY‹ [22] anscheinend erprobten lernen (auch wenn ich nicht weiß wie diese aussehen)?

Am letzten Tag werden die roten ›Historikertags‹-T-Shirts für 2 Euro das Stück verkauft.

[NB: Für trotz sorgfältiger Mitschrift möglicherweise fehlerhafte Zitate und Wiedergaben vom ›Historikertag 2018‹ bin natürlich allein ich verantwortlich. Auch mag die Grenze zwischen Notiertem und meinen Überlegungen dazu mitunter unscharf sein.]
05-10-2018

[1] Lutz Raphael, Auszug aus der Komfortzone?, 10.7.18, https://blog.historikerverband.de/2018/07/10/auszug-aus-der-komfortzone/.
[2] Resolution des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands zu gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie. Verabschiedet von der Mitgliederversammlung am 27. Sept. 2018 in Münster, https://www.historikerverband.de/verband/stellungnahmen/resolution-zu-gegenwaertigen-gefaehrdungen-der-demokratie.html.
[3] Vgl. Jenny Genzmer, Netzwerk „Historians without Borders“. Den nationalen Blick auf Geschichte überwinden, 25.7.18, https://www.deutschlandfunkkultur.de/netzwerk-historians-without-borders-den-nationalen-blick.976.de.html?dram:article_id=423842.
Prisma Ukraïna – Research Network Eastern Europe, https://www.prisma-ukraina.de/home.html.
[4] Gespaltene Zunft? Welchen Stellenwert haben Promovierende für den Historiker_innenverband? Offener Brief an die Mitglieder des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands, 27.9.18, https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/offener_brief_historikertag18.
Eva Schlotheuber und Frank Bösch, Antwort auf den Offenen Brief der Doktorandinnen und Doktoranden, 28.9.18, https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/antwort_auf_offenen_brief.
[5] Pjer Biederstädt, Schülerprogramm beim Historikertag. Wissen schützt vor Spaltung, 27.9.18, https://www.wn.de/Muenster/3490909-Schuelerprogramm-beim-Historikertag-Wissen-schuetzt-vor-Spaltung?utm_source=Twitter&utm_medium=Shared%2dLink.
[6] Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne. Suhrkamp Taschenbuch. Erste Auflage 2015, S. 469.
[7] Zit. n. Maria Framke, Encounters with Fascism and National Socialism in non-European Regions, in: Südasien-Chronik 2/2012, S. 350-374, hier 350f., online: https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/18635/350.pdf?sequence=1.
[8] Maria Framke, Anti-Koloniale Solidarität? Der Abessinienkrieg, Indien und der Völkerbund, in: Sönke Kunkel und Christoph Meyer (Hg.), Aufbruch ins postkoloniale Zeitalter. Globalisierung und die außereuropäische Welt in den 1920er und 1930er Jahren. Frankfurt am Main 2012, S. 190-208, hier 202 und 206.
[9] Vgl. Mario Tedeschini Lalli, La questione araba e la Lega dei Popoli oppressi nella Fiume dannunziana, in: Annali della Facoltà di Scienze politiche [Università di Cagliari] Vol. IX, 1983, S. 599-624, online: http://www.tedeschini-lalli.it/pdf/Fiume83.pdf.
[10] Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, Bd. II, hg. v. Christian Hartmann u. a. im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte. München–Berlin 2016, S.1654 Anm. 56.
[11] Peter Martin, Die ›Liga gegen koloniale Unterdrückung‹, http://www.berlin-postkolonial.de/cms/index.php/ereignisse/10-orte/mitte/20-wilhelmstrasse-48-liga-gegen-koloniale-unterdrueckung.
[12] Franz-Xaver Kaufmann zit. n. Michael N. Ebertz, Research Report: Forschungsbericht zur Religionssoziologie, in: International Journal of Practical Theology Bd. 1 Heft 2, 1997, S. 268–301, hier 297f.
[13] 003 – Revolution im (Kuh)Stall, Gast: Veronika Settele, 7.3.18, https://anno-punktpunktpunkt.de/003-revolution-im-kuhstall.
[14] 3 Fragen an Ulrich Raulff. »Kultur und Freiheit ermöglichen und bedingen einander«, https://www.ifa.de/ueber-uns/organisationsstruktur/praesident/3-fragen-an-ulrich-raulff.html.
[15] z. B. das Cover von Dietmar Süß, ›Ein Volk, ein Reich, ein Führer‹. Die deutsche Gesellschaft im Dritten Reich. C.H.Beck. 2017, Abbildung online https://www.chbeck.de/suess-ein-volk-reich-fuehrer/product/14692391.
[16] Karl Krall, Denkende Tiere. Beiträge zur Tierseelenkunde auf Grund eigener Versuche. Der kluge Hans und meine Pferde Muhamed und Zarif. Mit Abbildungen nach eigenen Aufnahmen. Leipzig 1912, Tafel I. Siehe Digitalisat über https://archive.org/details/denkendetierebei00kral/page/6.
[17] Hans Joachim Gross, Die Geschichte vom klugen Pferd Hans, in: Biologie in unserer Zeit Vol. 44 Heft 4, 2014, S. 268-272, hier 269f.
[18] Der Text der Verlagsankündigung findet sich auch online unter https://www.aschendorff-buchverlag.de/detailview?no=13284.
[19] Siehe Verlagsankündigung inkl. Leseprobe online unter http://www.steiner-verlag.de/titel/61374.html.
[20] Leseprobe online unter https://www.mohrsiebeck.com/uploads/tx_sgpublisher/produkte/leseproben/9783161554469.pdf.
[21] EUSTORY. Die Idee, https://www.koerber-stiftung.de/eustory.
[22] EUSTORY http://eustory.org/home.

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