über Esther Kinskys Hain. Geländeroman

Esther Kinsky,
Hain. Geländeroman.
Suhrkamp Verlag. Berlin 3. Auflage 2018.

Ich kaufte das Buch zwei Tage nach Einsturz der Genueser Autobahnbrücke und vor Antritt einer Fernbusfahrt. Ich hatte gerade hundert Euro geschenkt bekommen und kam mir glücklich-mondän vor wie ich mit den beiden gefalteten Scheinen in der Hand (in meiner Hose) auf dem Weg zum Busbahnhof in eine Buchhandlung trat, das verschweißte Exemplar mit dem Aufkleber ›Preis der LEIPZIGER BUCHMESSE 2018‹ auf der Vorderseite aus dem Regal nahm und die auf dem Buchrücken klein ausgewiesenen »€ 24,00 [D]« zahlte, als Abbitte für all die Mängelexemplare und gebrauchten Bücher der letzten Zeit, ob in Antiquariaten, als akkumulierte Medimops-Bestellungen oder schlechterdings als Scans (selbstgefertigt und von fremden Servern, bisweilen auch wieder ausgedruckt; Duplex, 4 auf 1 und getackert-gefaltet).

Der Bus fuhr am Bodensee entlang, passierte Idealdörfer wie Gutmadingen. So wie sich die Landschaft längs der Strecke präsentierte, wuchs der Untertitel des Buches – ›Geländeroman‹ – immer mehr zu einer Verheißung wie das Genre eines noch nicht erfundenen, literarisch-immersiven Videospiels. Indes, die Orte im Buch trugen andere Namen: »Olevano«, »Chiavenna« und »Comacchio« sind die drei Teile des Geländeromans überschrieben, wobei der erste der eindringlichste ist; luzide, lyrisch auch und nah. Die Autorin sprach gestern anlässlich einer Lesung im Programm des Internationalen Literaturfestivals Berlin von der »Wiedergewinnung des Blicks«. Der Mittelteil hingegen schwebt – trotz Ortsbezeichnung – ungebunden, in Erinnerungen an den verstorbenen Vater der Erzählerin, an gemeinsame Italienreisen, und wurde von der Autorin hiernach als »Erinnerungsteil« charakterisiert. Der dritte Akt – wie der erste wieder der »Erkundung« eines konkreten Geländes gewidmet – exploriert nicht mehr mit dem Blick der Neuerscheinung die Gegend um Olevano Romano, des ins Mittelgebirge austretenden Hinterland Roms; vielmehr verliert er sich im Delta des Po, mäandert wie die Gezeiten und kreist dabei zunehmend um sich bis zur Abblende – wäre da nicht die doppelte Coda aus Ravennaer Mosaiken und Fra Angelico, die die Himmelfahrt dieses Romans vor dem Entflüchten bewahrt, ihm das Gleichgewicht gibt zwischen Erdung und Auflösung.

Zu Beginn jedoch bewegt sich der Roman noch ganz »auf unbekanntem Gelände, abseits von Erinnerungen« (Esther Kinsky, Hain. Geländeroman. Suhrkamp Verlag Berlin 3. Auflage 2018, Seite 17), mit der Ankunft der Erzählerin zwei Monate nach der Beerdigung von M. Der Verlust mitgebrachter Memorabilia – »Am nächsten Morgen fand ich eine Scheibe des Autos eingeschlagen.« (15) – wirkt einsetzenden Erinnerungen entgegen: Es ist dies vielleicht auch ein Widerwort gegen Bodo Kirchhoffs unsägliches Widerfahrnis-Buch (Deutscher Buchpreis 2016), das ich nicht las, dessen Cabrio-Autoglas ich jedoch zu Bruch gehen sah in dieser Szene.

Das Terroir ist Italien, ›fuori stagione‹ e ›fuori le mura‹. Winters in Italien, Widerworte, Isolation. Nach dem manichäischen Vorhof des Buches – »vii / morți« überschrieben wie eine Art Anweisung, das Geländer zum Gelände sozusagen, einführend wie jener Spruch über Dantes Inferno – (be)öffnet sich das Panorama, die Konstellation, der Schauplatz mit dem ersten Satz: »In Olevano Romano lebe ich auf einige Zeit in einem Haus auf einer Anhöhe.« (13) Natürlich kann man dieses Gelände auch a distanza durchstreifen, die Bilder auf Google Maps sind zehn Jahre alt. [1]

Mit der Assoziation ›Max Frisch‹, konkret der Erzählsituation in Der Mensch erscheint im Holozän, stimmt die Lage am Hang über dem Tal, die Warte der einsamen, präzisen Beobachterin überein. Termini wie »Gewölk« (26), »Gezweig« (195) verstärken diese Affinität. Wo in Hain im dritten Teil ein Kirchturm aufgrund seiner Neigung als »Ausrufezeichen« gesehen wird (198), hatte Sabeth in Homo faber eine »letzte schwarze Zypresse« als »Ausrufzeichen« gedeutet (Max Frisch, Homo faber. Ein Bericht. Suhrkamp Verlag Frankfurt a. M. 1. Auflage 1977, 69. Druck 2004, S. 151; worauf der Erzähler angemerkt hatte, dass Ausrufezeichen »ihre Spitze nicht oben, sondern unten« hätten). Wie der Vater der Hain-Erzählerin führt Hanna im Alter als »Fremdenführerin […] Mittelmeerreisegesellschaften« (Frisch, Homo faber, 200) durch ein Land, das im Zweiten Weltkrieg von deutschen Soldaten besetzt und versehrt wurde.

Doch zurück zum dialogischen Dualismus (fortan: Dialogismus) der Hain-Eröffnung: Da werden die »ungestrengen« Pinien konterkariert von den »scharf gegen den Himmel ragende[n]« Zypressen – wie ein »Widerwort« –, da finden sich Birken als »versprengte […] Irrgäste« im Olivenhain, die Birkensamen vielleicht von einem hier malenden Landschaftsmaler von nördlich der Alpen achtlos mit dem Taschentuch aus der Weste gezogen. (13) Der Ausdruck ›sich scharf abzeichnen gegen‹ rekurriert wiederholt – wie auch das Füllwort ›allenthalben‹ –, nicht selten in Verbindung mit Sprachzeichen; so steht auf Seite 196 „ein großes kranartiges Gerüst […] gegen den Himmel […] wie ein Satzzeichen«. Diese gekoppelte Verwendung von ›Zeichen‹/›Sprache‹/›sich abzeichnen‹ markiert auch den Unterschied von ›Landschaft‹ und ›Gelände‹, ist doch letzteres jenes, das Zeichen trägt, das Rückstände aufweist. Die Autorin sprach während der Lesung von »Gegend« und »Versehrung« und erläuterte auch den Begriff des »gestörten Geländes« aus den Naturwissenschaften, somit ›Gelände‹ von ›Landschaft‹ abgrenzend.

Als auf Seite 20 eine »Rauchsäule« emporsteigt und ein »sanfter Brandgeruch« über »allem« lag, hält auch der Fernbus auf der Autobahn und weiter vorne wölbt sich immer größer eine schwarze Brandwolke empor. Im Stau bildet sich eine Rettungsgasse, Rettungsfahrzeuge mit Sirenen preschen zur Unglücksstelle.
Tatsächlich aber bleiben die olfaktorischen Übermittlungen in dem Geländeroman spärlich und wirken dadurch umso stärker: das Verbrennen der alten Olivenzweige durch die »Schnitter« (102), das Lichten des Haines nach dem Winter als Trauerarbeit, der Hain wirkt nun »lichter«, »aufgeräumter« (105). Im dritten Teil der Gestank der Gingkofrüchte auf dem jüdischen Friedhof in Ferrara (vgl. 205). Keinesfalls ist Hain so betörend-betäubend wie Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen, wenn sie auch Übereinstimmungen aufweisen, sei es im topografischen Entwurf, sei es in der präzisen, naturkundlichen Bezeichnung von Pflanzen, Vögeln und anderen Tieren.

Die Toten in Gestalt von M. und dem Vater werden in Hain erinnert, aber auch tote Tiere kehren symbolistisch wieder; die von einer Möwe totgehackte Taube, der in den Abgrund gestürzte Viehtransporter. Auch der Ekel der Erzählerin vor Aalen, ihrem Aasfraß, ihrem Zug über die Wiesen in Massen nach der Sargassosee ist ein vielverwandtes Motiv. Es schafft zugleich eine seltene Verbindung über die Alpen hinweg, tauchen sie doch sowohl im toten Rheinarm wie im Delta des Po auf, geräuchert und in Becken in Auslagen beider Orte. Hier könnte auch auf andere sinistrere Fingerzeige verwiesen werden, so die über die Täler und Hänge von Olevano Romano tönende Frage des mobilen Gasinstallateurs nach Gasgeruch, die für die subkutan sich anreichernden Versehrtheitserfahrungen im Hintergrund des miracolo economico sprechen könnte: Durchgreifende Infrastruktur- und Modernisierungsprojekte wie der Tunnel in Olevano, der dem Ort sein Gepräge gibt, das Ländliche entstellt, die Anbindung an Rom bemisst: mit einem Mal durch den Berg geschossen statt die Hügel hochgekurvt. Es ist weiter das hinterland eterno der pianura padana, eine »farblose Provinzialität« (66) vielleicht, von Musterküchenfachgeschäften, Showrooms unter Staub, »Brache« (76). Und es sind die unbestimmt und unerklärlich bleibenden Detonationen in der Ferne, die die Erzählerin sowohl in Olevano als auch in Comacchio hört.

Es ist ein Geländeroman über die Mischformen von An-Urbanisierung und ländlicher Siedlungsdichte, von Ausfallstraßen und bestelltem Gelände, mit Sensibilität für Zwischenorte, Pendlerwege und Begegnungsorte wie die Bushaltestelle. Der »Zwischenplatz« (63) des akzidentiellen, akkumulierten Schrotthaufens auf einer ehemaligen Aussichtsterrasse, die Konstatierung – »Alles war Passage.« (78) – und die baldige Gewinnung des Friedhofs von Olevano als »Insel des Trostes« (78). Dazwischen – als ebenfalls immer wiederkehrendes Motiv – Grüppchen »ratlose[r], rastlose[r] Afrikaner« (65), die verloren an Straßenecken warten. In einer nächsten Erzählung wären sie vielleicht als ›Psychopompoi‹ zu besetzen wie Dantes Vergil im Inferno.

Auf Seite 16 ist der Zusatz «mit Matrosenthema« misslich, auf Seite 31f. die Formulierung »hinter Schloss und Riegel«, doch andere etwas banale Sprachbilder wie das ›Würfeln‹ zwischen Wasser und Hinterland um einen Streifen Marschland werden durch unerwartete Volten wieder aufgefangen: »Würde man sich im richtigen Winkel in den Wind lehnen, würde man womöglich das leise Klacken hören, mit dem die Würfel aneinanderstießen.« (70) Und ich bin noch dazu unendlich dankbar, dass es hier nicht lautet ›Klackern‹.

Die Gezeiten, das Marschland als Land des Übergangs, zeigen den Dialogismus, das Ineinanderbegriffen-Sein von Land und Meer an – so auch von »vii / morți« (nach den Gesetzen der Gezeiten)?

Es ist da das Bild der ›Atemschaukel‹ nach dem gleichnamigen Roman Herta Müllers, ob das hier anzubringen wäre? Sicher doch Boris Pahors Nekropolis; das Suchen, das Aufsuchen von Stätten, die Ortsbesuche, die Verarbeitung von Trauer. Sind nicht die Nekropolen der Etrusker, die in Hain immer wieder besucht werden, auch Trauerstätten, die mit dem Besuch des jüdischen Friedhofs in Ferrara und der Suche nach dem Grab Giorgio Bassanis vereint werden können, die Trauer über M. auch mit jener über die Shoah?

Der erste Teil des Romans endet mit der Abreise aus dem Mittelitalienischen in die Po-Ebene, »das riesige Delta, unstet und schwerelos, mal Erde, mal Meer, immer auch Himmel« (117) – so wie Beppe Fenoglios Partisanenroman Il partigiano Johnny mit Moby Dick verglichen worden ist, die Hügellandschaft, das sanfte Auf und Ab von Hügel und Senke mit dem Wellengang des Meeres, hier zur Adria.

Das Bild von der »bewegliche[n] Panoramabühne« (17), als die ›Landschaft‹ auf der Autobahn vorbeigezogen wird, erinnert an eine Szene aus Bernhard Sinkels Verfilmung des Taugenichts von 1978, der Nachahmung einer Kutschfahrt. Fotografie ist ein weiteres durchgängiges Motiv des Romans: Belichtung, Geäst, Negativstreifen, Gegenlicht, Geäst-Gedächtnis-Struktur.

Akzente wie der »Mantel in Orangerosa«, der »an das Fruchtfleisch von Papaya oder die Narbe einer Brandwunde« erinnert (81). Später eine Wiederkehr, an einem trüben Tag in Lido di Spina, eine Frau in »rosa Trainingsanzug« (262), mit Pelzmantel und zwei Hunden: »Wenn diese sich an ihren Pelzmantel drückten, sahen die drei von hinten aus wie ein einziges seltsames Tier« (263).

Die doppelte Coda bilden, wie gesagt, die Mosaiken von Ravenna und die Lamentatio Fra Angelicos. Erstere stabilisieren die Narration in einem aufgehobenen, geborgenen Zwischenzustand: »In der Mitte des hellen Blaugrüns zeichnete sich schwach ein Umriss ab, der alles sein konnte – ein Boot, eine Insel, eine versunkene Stadt, der Schatten einer Wolke« (276). Zuvor war die Gefahr eines Sich-Verlierens, einer Auflösung durch das wunderschöne Motiv der »Blautrunkenen« angedeutet worden: Betrachtete man zu lange die Mosaiken im Mausoleum der Galla Placidia, »würden die Wärter nach Feierabend die lästige Aufgabe haben, die Blautrunkenen aus der Luft zu pflücken und irgendwo abseits und von jedem Blau geschützt wieder zur Besinnung kommen zu lassen.« (275) Die Emporflüchtenden, die Himmelwärtsauffahrenden werden zurückgehalten. Es endet, in bilico, im ewigen »Zwiegespräch« (276), im Dialog von Himmel und Erde, von vii und morți.

Angehängt findet sich noch eine Beschreibung des Trauerbilds des Fra Angelico über den Tod Franziskus von Assisis. Als ich das Gemälde ›Drei Teile einer Predella‹ unlängst in der Berliner Gemäldegalerie sah, kurz vor der Abendschließung, war ich vor allem von der rechten Tafel der Predella [2] angetan, jene, die einen Raum mit Franziskanermönchen zeigt, denen ihr Stifter erscheint. Faszinierend ist nicht zuletzt der geöffneten Durchgang in den Garten im Hintergrund, wie auch die Türöffnung links im Bild, durch die gerade ein Mönch verschwindet: »Kein Tupfer Blau findet sich auf dem Bild. In Abwesenheit des Himmels bleiben die Hinterbliebenen gefangen im unberechenbaren Raum des Traums.« (280) 07-09-2018

[1] https://goo.gl/maps/rCkwGg9U1VQ2
[2] https://www.wga.hu/html_m/a/angelico/12/02compa4.html

[PDF]