über das Buch Ethnofuturismen

Armen Avanessian / Mahan Moalemi (Hg.),
Ethnofuturismen. Aus dem Englischen von Ronald Voullié.
Merve Verlag. Leipzig 2018.

Armen Avanessian hat ein neues Buch. Es heißt Ethnofuturismen. Er hat es am 13. September im Roten Salon der Volksbühne vorgestellt. (Ich war da.) Der andere Herausgeber des Buches, Mahan Moalemi, war nicht da. Weil er kein Visum bekommen hat, sagt Avanessian. Deswegen hat Avanessian den Vortrag, den Moalemi halten wollte, dann selbst vorgetragen.

Ethno*futurismen
Demnach geht es in Ethnofuturismen um die Dimension des »Chronopolitischen«. Diese zeichnet sich aus durch eine Ungleichverteilung der Zukunft. Ethnofuturismen können diesem Ungleichgewicht entgegenwirken. Die (Wieder-)Entdeckung von Zukünften als Ethnofuturismen sei in ihrer ›chronopolitischen‹ Wirkung vergleichbar mit der ulterioren Beförderung eines sich quer durch die »Chronosphäre« fortsetzenden »Butterfly-Effekts«. Ein solcher Effekt sei zu verstehen als eine fortwachsende Abweichung, sich »exponentiell« steigernde »Divergenz«. Auch der lineare Zeitstrahl müsse »sideways« ausgedehnt, in die Räume entlang der »timelines« verzerrt und erweitert werden. Dahinter stünden »Verschiebungen des Zeitbewusstseins«, Mobilitäts- und Vertreibungserfahrungen des ›Globalen Südens‹ und der Versuch in der »Sackgasse« der »identity politics« auszuparken. (Das sind die notierten Stichwörter, aber angereichert; auch denke ich über die Emergenz von Bedeutung nach.) Schon im Juli – im Deutschlandfunk [1] – hatte Avanessian von ›Zeit‹ und ›Zukunft‹ als »chronopolitische[m] Terrain« gesprochen und das emanzipatorische Potenzial peripherer Zukünfte beschworen sowie sich von den essenzialistischen Annahmen eines neurechten ›Ethnopluralismus‹ abgegrenzt.

Das Buch Ethnofuturismen ist im Merve Verlag in der Reihe ›SPEKULATIONEN‹ erschienen. An dem Abend in der Volksbühne kostete es 10 Euro, regulär kostet es 15 Euro. Auf Amazon sind »Nur noch 19 auf Lager (mehr ist unterwegs).« Nach der Einleitung (Armen Avanessian und Mahan Moalemi, Ethnofuturismen: Befunde zu gemeinsamen und gegensätzlichen Zukünften, in: dies. (Hg.), Ethnofuturismen. Leipzig 2018, S. 7-39; siehe auch [2]) der Herausgeber Avanessian / Moalemi, versammelt die »Anthologie« [3] sieben Beiträge. Diese zeigen drei Perspektiven von Ethnofuturismen auf: »Afrofuturismus«, »Sinofuturismus«, »Golf-Futurismus«.

Die Beiträge sind gewohnt nachlässig lektoriert, mit Fehlern im Satz(bau) und einer Übersetzung, der noch das englische Original anhaftet. Im Beitrag von Anna Greenspan wiederholen sich die Seiten 129 bis 144 zweimal, was als Schwellfingerzeig auf gestanzte Redundanzen, glitches und Iterationen hin gedeutet werden mag: In Andeutung subversiver Akkretion stottert sich der Papierstau des teiltriplizierten Beitrags über die Schanghaier Weltausstellung 2010 zum blattstärksten des Bändchens. (Und hinten, auf dem Buchrücken, grüßt die Buchnummer ›451‹ als Signatur sich potentiell selbstentflammender Bücher, beschleunigt im reflektiert-gebündelten Sonnenstrahl gewölbter Office-Fassaden in Pudong-MITte.) [4]

Sinofuturismus
Greenspans Beitrag beschreibt Schanghais Suche nach »einer grundlegend anderen Zukunft, die nicht relativ, sondern real und absolut ist« (Anna Greenspan, Shanghai Future. Remake der Moderne. Die Zukunft hat kein Datum, in: Avanessian / Moalemi, Ethnofuturismen, 155-148, hier 126), was an Quentin Meillassouxs Ausbruchsversuch aus dem korrelationistischen Zirkel erinnert. Dabei versuche die Stadt an die eigene ›arretierte‹ Moderne der 1920er und 1930er Jahre anzuschließen, während derer die Metropole als »Schauplatz globaler Modernität« (139) erfahren wurde. Aus der maoistischen »Schockstarre« (141) wurde Schanghai erst 1992 ›gerelauncht‹. Lange Zeit in ausgesetzter Zeit (und Witterung) arretiert verfallend ›im Off‹, blieb es so vielleicht unbetroffen von den zwischenzeitlich kollabierten Futurismen divergierend-westlicher Regionen, deren – so eine Zeitrechnung – Planungshyperbeln 1962 abbrachen im Gelächter der Zeichentrickserie Die Jetsons und ihres »subversive[n] Humor[s]« (134). (Was war dann Nixon in China 1972 und 1987?)

Der andere den Sinofuturismus explorierende Beitrag des Bandes, verfasst »1997 oder 1998« (Steve Goodman, Fei Ch'ien versickert: Sinofuturistische Geheim-Währung, in: Avanessian / Moalemi, Ethnofuturismen, 87-114, hier 87) – also zeitgleich mit den beiden Nixon in China-Sequels Tomorrow Never Dies (1997) und Rush Hour (1998) –, »kartographiert die dunkle Seite des tumultuösen Aufschwungs in Ostasien« (89). So wie diese blendet das »Cut-Up-Experiment« (87) schlaglichtartig ›Triaden‹, ›Opiumkriege‹, ›Geldströme‹ und ›Cyberspace‹ auf und blättert so eine ›Retro-Futur‹-Stimmung vis-à-vis der 90er hin. Cineastisch ließ sich diese Leichtigkeit, die neuen Horizonte des 90er-Jahre-Kinos (sofern ich das ex post überblicke) – sei es die Wiederentdeckung Berlins in Lola rennt (1998), der späteren ›Osterweiterung‹ (die Filme Emir Kusturicas, oder auch – in unterschiedlicher Perspektive – Im Juli (1998), No Man's Land (2001) und andere mehr), sowie natürlich die Entdeckung der Möglichkeiten des Internets in Matrix (1999) – vielleicht ein Stück weit wiedererleben in dem Film An Elephant Sitting Still (大象席地而坐), der in diesem Jahr auf der Berlinale Premiere feierte. Dort sah ich ihn am 22. Februar im tunnelgleich langgezogenen Kinosaal des Delphi Filmpalasts am Zoo. Die Reihen waren gut besetzt, es lag eine Stimmung von Erleben über dem Publikum, wenn auch nicht alle Anwesenden die vier Stunden bis zum erlösenden Fanfarenstoß des Elephanten aus dem Off aussaßen, der die verbliebenen mit einem melancholischen Lächeln entließ. Das Langfilmdebüt des jungen chinesischen Autors Hu Bo bewegt sich durch die Geschehnisse eines Alltags in einer namenlosen-mittelgroßen Stadt Nordchinas. Die Bilder, die Farben, die Wege der Bilder über die Gesichter und Fassaden sind betörend in ihrer Nähe, in ihrer hermetischen Unberührtheit – wie von Christian Kracht gemacht –, der Himmel impassibile in seinem bedeckten Strahlen (Überbelichten) auf die sich sukzedierenden Vorkommnisse, so dass es ein »Leben als Einöde« bleiben mag, wie Yun-hua Chen dem Film im Berlinaleblog des Goethe-Instituts gleichsam einen Untertitel zufügte. [5] Ungeachtet ungelenker Dialoge, war doch das Filmschaffen erkennbar, zu bewundern, beim Werden sozusagen dokumentarisch erlebbar. Die titelgebende Allegorie des stillsitzenden Elefanten – der sich nicht bewegt, der sich weigert, sich zu bewegen – kann vielleicht als Gegenmoment zu den Erwartungen und Vorhaltungen von ›Strebsamkeit‹ und dem von internationalen Medien leichtfertig als ›großer Sprung nach vorne‹ apostrophierten (vgl. 140) chinesischen Wirtschaftsaufschwung gesehen werden (siehe auch ›Sprung‹ der ›Tigerstaaten‹) – in einer ähnlichen Weise wie der junge Alberto Moravia dem italienischen Faschismus mit Gli Indifferenti (1929) eine brisante Gleichgültigkeit entgegenhielt. Die Filmkritikerin Chen zitiert aus Hu Bos erstem Buch 大裂 (»Risse«), das 2014 unter seinem Pseudonym Hu Qian erschienen war, indes die noch produktive Überzeugung der Mittelbarkeit der eigenen bitteren Erfahrung: »Ich dachte darüber nach, warum ich dort war und in der Einöde nach Wegen suchte, die ich einschlagen kann. Und ich bin überzeugt, dass es mehr ist als nur die Enttäuschung über die Gegenwart.« [5]

Einschub: ›Chinoiserien‹
›Sinofuturismus‹ sei nicht zuletzt ein Stil der Diaspora (vgl. 100). Er bedient sich frei-künstlerisch vagierender Vorhaltungen von ›Nachahmung‹, ›mangelndem Ingenium‹, ›Enthumanisiertheit‹ wie ›KI-Begeisterung‹, von ›befremdender Roboterhaftigkeit‹ – im Ergebnis vielleicht nicht unähnlich der digitalen Subkultur des ›Vaporwave‹ von vor wenigen Jahren (eine Parallele, die sich dann vor allem auch in Zusammenhang mit der Ästhetik des ›Golf-Futurismus‹ ziehen lässt). Ein nicht unproblematisches Manko der Anthologie mag indes sein, dass im ›Sinofuturismus‹-Kapitel mit Greenspan und Goodman keine Stimmen der Diaspora vertreten sind, sondern bestenfalls Korrespondenten und Adepten. Die ›Chinoiserien‹ des Hyperdub-Gründers Goodman sind wohl nur ein Stück weit informierter und vernetzter als Leibniz'sche. Wie schreibt Ma Keyao, Geschichtsprofessor an der Universität Beijing, in einem Beitrag über das Problem des geschichtstheoretisch vorgefertigten eurozentrischen Blicks? »Bis heute fehlt uns ein eigener Ausgangspunkt, eine Geschichtstheorie, die von der eigenen Geschichte ausgeht. Es fehlt uns eine Weise, aus der eigenen Perspektive die Welt zu betrachten, eine sich darauf gründende Theorie der Weltgeschichte, ein Entwicklungsmodell der Weltgeschichte.« Solange dies nicht möglich sei, »beschränken wir uns auf die Gegenwart.« [6]

Auch die synkretistisch-glatten Bilderwelten des 情報デスクVIRTUAL-›Vaporwave‹ [7] boten eine Sehnsucht, ein Verlangen. So war die Gegenwart dabei nicht bloß ›Bildschirmschoner‹ sondern immer auch dessen Einbrennen (screen burn-in), glitches, Störungen; folglich: eine Spur, ein blinder Fleck, die Abweichung in der Iteration. Wie auch zeitgleich mit ›Vaporwave‹ das ›Trap‹-Genre populär wurde, es zwischen beiden nicht nur visuelle Übereinstimmungen gab.

Die überformende Konstatierung eines ›China-Momentums‹ ist ein Topos, der sich so fest eingebrannt hat, dass seine Ablösung durch dekonstruierende Historisierung eigentlich unmittelbar anstehen müsste – vielleicht in der Form, in der Albrecht Koschorke 2015 in Hegel und wir die Erzählangebote von Hegels Preußen und der Europäischen Union heutzutage verglichen hat. (Es ist bestimmt schon geschehen, ich habe es nur noch nicht vernommen. Was ich zuletzt kursorisch hinsichtlich ›China‹ und ›(Zeit-)Erwartungen‹ notiert habe, ist disparat Folgendes:)

In einer Rezension zu Bernd Roecks dickbändigem Renaissance-Kompendium Der Morgen der Welt (2017) fand es der Rezensent abschließend »[u]ngemein spannend« das Gelesene »in die Gegenwart zu übertragen« entlang der Frage: »Wo werden sich welche Voraussetzungen geändert haben, sollte China demnächst Europa in einer asiatischen Renaissance ökonomisch und technisch wieder überholen?« [8] Die Frage blieb ohne Antwort, sie schwang nach, vielleicht auch in ihren latent kulturpessimistischen Andeutungen. Können nicht auch – den Gedanken fortführend – aus Annahmen und Vorhaltungen sich verfestigende Ressentiments zu den von Avanessian und Moalemi kritisierten »Präemptionsphänomenen« (16) gezählt werden? Die zwei Herausgeber führen in der Einleitung indes nur »präemptiv[e] Versicherungen, derivatives Finanzkapital und Empfehlungsalgorithmen« (16) als Beispiele für Mechanismen an, die die Zukunft belegen und so dem gestalterischen Gegenentwurf verwehren würden.

Zusätzlich scheint in der Suggestivfrage das Verständnis eines Duells auf der Piste eines linearen Fortschritts auf: Da klinkt sich stupiderweise der Gedanke an röhrende Zweirad-Kessel (›in seinem Lauf...‹) und den running gag ›Eckart, die Russen kommen!‹ aus Werner ein, ein Untergangsahnungsmotiv, das bei Louis-Ferdinand Céline stets ›chinesisch‹ substituiert rekurrierte, etwa in Norden vor dem Hintergrund des in märkischem Kleinstadt-Sand peripher-rural erfahrenen großen Zusammenbruchs im Zweiten Weltkrieg: »[W]enn die Mansardparks nicht mehr gepflegt werden, besonders in Brandenburg, kann man sagen, es ist aus, das ›Grand Siècle‹ ist untergegangen, bleibt nur noch, auf die Chinesen zu warten« [9]. Die Ankunft Chinas als ›Ende der Geschichte‹ ist bei Céline wohl auch der Versuch von den eigenen innereuropäischen Verstrickungen abzulenken und einen neuen, quasi exterritorialen ›Feind‹ zu schaffen, der als deus ex machina Absolution bedeute, in der Weise wie wohl tatsächlich vielleicht der ›Kommunismus‹ Célines ›eigene Frage als Gestalt‹ blieb. Ob das Motiv eher der Zeitumstände der Niederschrift des Buches geschuldet ist – 1959, vgl. Norden S. 16 –, wäre wohl zu Erörtern (auch wenn es im Romankontext anders dargestellt wird, vgl. S. 262). Die phantastisierte Heraufkunft ›der Chinesen‹ wird bei Céline von symbolistischen Bildern eingerahmt: Der ›Mansardpark‹ könnte plakativ George zugeeignet werden, wohingegen der Gedanke »die Uhren können sich nicht von selbst aufziehen« an Rilkes ›Gott im Mittelalter‹-Gedicht denken lässt. Ein ›Aushängen‹ der Zeit, des ›Schlagwerks‹ wird bei Céline indes nicht nahegelegt, eher ist es eine Übergabe: das Warten darauf, dass ›die Chinesen‹ ›die Uhren‹ wieder aufziehen, das Weltgeschehen takten.

So konnten in einem gegen China gerichteten Antikommunismus xenophobe Töne mitschwingen; etwa wenn ein britischer Südostasienwissenschaftler 1967 betonte, dass das amerikanische Engagement im Vietnamkrieg nicht zuletzt der »fear of Chinese Communist expansion« geschuldet sei, denn »Russia, after all, can be accommodated«, aber China schien fremd, gefährlich und unbekannt. [10]

In Alfred Webers ebenfalls zu historisierender Konzeption einer »Geistesgeschichte im kulturvergleichenden Maßstab« [11], seinem 1943 erschienenen Das Tragische und die Geschichte [12], funktionalisierte Weber das achsenzeitliche China als »antitragische[n] Gegenpol« zur griechischen Antike. China als »das antitragische Land«, das charakterisiert wird als »harmonistisch« – was an den Euphemismus ›harmonisieren‹ für ›zensieren‹ denken lässt –, als bestimmt durch ein »chthonisch gefühlte[s] Gleichgewicht des Daseins«, wenn auch – mit Blick auf die Gegenwart – jüngst »aus diesem idyllischen Ideal furchtbar hinausgeschleudert«. Die anhaltend vormoderne Darstellung Chinas im konfuzianischen Ideal eines Strebens nach Ausgleich, nach Harmonie – subliminal kontrapunktiert vom amerikanischen pursuit of happiness – ist auch ein oft bemühtes Motiv, das überdies gern als Kontrastfolie zum ›neuen Auftreten‹ des Landes verwendet wird, wenn etwa langjährige Chinakorrespondenten zu bemerken meinen, dass sich »[d]ie Chinesen [...] neuerdings schon mal arrogant« benähmen. [13] Aus der ›Erdverbundenheit‹ (von ›chthonisch‹) sind in der heutigen Darstellung sozusagen ›seltene Erden‹ geworden: die Bedingungen ihrer Förderung, ihrer Foxconn-Verarbeitung sowie der Vorwurf der ›Abwesenheit‹ dieser Material- und Produktionsgeschichte im Endprodukt; ein Vorwurf, der womöglich latent als nostalgisches oder gar reaktionäres europäisches Ressentiment gesehen werden könnte, wo seinerseits – vielleicht zunehmend – mit der »Ausbeutung« der Ressource ›Vergangenheit‹ Gewinn gemacht wird, durch die ›Anreicherung‹ des Produkts um eine Geschichte [14], durch eine ›geschützte‹ und auf eine postulierte Tradition verweisende Herkunftsbezeichnung.

George Steiner, kürzlich nach seiner »Diagnose der Zukunft unserer Zivilisation« gefragt, antwortete: »Ich glaube, wie ich schon sagte, dass Europa sehr müde ist. Ich glaube nicht an das chinesische Wunder, aber ich könnte mich irren. Ich glaube an das indische Wunder, an eine phantastische schöpferische Sensibilität, an eine extreme Erfindungskraft und Originalität.« [15] Womit er ja im Umkehrschluss diese Fähigkeiten China abzusprechen schien. Tatsächlich sprach er weiter: »Die Chinesen lernen mit einer phantastischen Energie, einer Disziplin, die einem den Atem verschlägt, aber sie wagen weder Kritik noch erfinderische Phantasie. Sind indische Studenten um einen Tisch versammelt, hört man aus jeder Stimme den Mut heraus, Neues vorzuschlagen, Vermutungen anzustellen, vor allem aber den Mut, jeglicher Autorität zu widersprechen. Daher mein Eindruck, dass wesentliche Kapitel in der Geschichte des Denkens und der Kunst zukünftig aus Indien kommen werden.«

Kerry Brown, Professor für Chinesische Studien am Londoner King's College, stellt einem ›nostalgischen‹ ›Westen‹ ein ›dynamisches‹ China gegenüber: »[W]e can see a major schism between those powers dominated by nostalgia, and a longing to return to the certainties and good condition of the past, and those who are looking forward to a future which will be better precisely because it will not be like the past. [...] China for the first time in the modern era is able to say it is a middle-income country with a global status, creating a form of modernity on its own terms for itself« [16]. »China [...] has won the battle of modernity.« [17] Was das Zeitempfinden dann noch einmal weiter suggestiv transponiert ist sein Vergleich der laufenden Vorbereitungen für die großen Feierlichkeiten zum hundertjährigen Bestehen der KP in China im Jahr 2021 mit der so allgegenwärtig wie unkonkret bleibenden ›Parallelaktion‹ in Musils Mann ohne Eigenschaften: »The Party will put on a performance of unity and success the like of which it, and the world outside, has never seen. It will make Musil’s “Parallel Campaign” look tame.« [18] (Gerade gesehen: Kafkas China. Forschungen der Deutschen Kafka-Gesellschaft, Band 5 (2017) sollte ich mir auch ansehen.)

Diesen ›Chinoiserien‹ – gemeint als ›Chinabilder‹, als ›China-Imaginationen‹, als Vorurteile, Vorhaltungen und Verzerrungen, überformende Zuschreibungen, Erwartungsimpeti – entgegen, wäre nun (wieder) an die Spielarten eines ›Sinofuturismus‹ anzuknüpfen. Wo aber beginnen? Ein Ansatzpunkt, mehr noch: ein Brennpunkt, könnte Hongkong sein: »Hong Kong is more interesting than ever« hieß es während einer Podiumsdiskussion am 9. September im Haus der Berliner Festspiele im Anschluss an die Vorführung des Dokumentarfilms Raise the Umbrellas des chinesischen Regisseurs Evans Chan. Sein stellenweise nostalgischer Rückblick auf die Occupy-Proteste der zweiten Jahreshälfte 2014 zeigte auch Radikalisierungstendenzen in einzelnen, meist jugendlichen Fraktionen der heterogenen Protestbewegung, etwa die radikalen, ›lokalistischen‹ Zukunftsentwürfe der 2015 gegründeten ›Hong Kong Indigenous‹-Bewegung. Ein flüchtiger Exponent derselben habe vor kurzem in Berlin einen Asylantrag gestellt, hieß es während der Veranstaltung.

Afrofuturismus
Von Sun Ra zum ›Blaccelerationism‹ – Den ersten in Ethnofuturismen abgedruckten Beitrag schrieb Kodwo Eshun 2003. Er greift darin u. a. die These einer Deutung des »kollektive[n] Traumas« der Erfahrung von Vertreibung, Sklavenhandel und Sklaverei als »Gründungsmoment der Moderne« auf: »[D]ie afrikanischen Subjekte, die die Erfahrung der Gefangennahme, der Beraubung, der Verschleppung, der Verstümmelung und der Sklaverei gemacht haben, [waren] die ersten Modernen« (Kodwo Eshun, Weiterführende Überlegungen zum Afrofuturismus, in: Avanessian / Moalemi, Ethnofuturismen, 41-65, hier 42). Der entstehende Kapitalismus ist folgerichtig als »Rassenkapitalismus« (77) zu kennzeichnen. Aria Dean schraubt diese Befunde in ihrem Beitrag eine Umdrehung weiter, indem sie die Verknüpfung zur Strömung des ›Akzelerationismus‹ herstellt – als »Blackzeleration« (Aria Dean, Anmerkungen zur Blackzeleration, in: Avanessian / Moalemi, Ethnofuturismen, 67-85) – und diesbezüglich die Frage nach der ›Sprengkraft‹ des ›Erfahrungsvorsprungs‹ der Figur des ›Sklaven‹ aufwirft. In abgeschwächter Form finden sich solche Überlegungen vielleicht auch in dem von Avanessian und Moalemi in der Einleitung angeführten Konzept des »Afropolitanismus« (18), das von Achille Mbembe als »Bewusstwerdung ›der Präsenz des Anderswo im Hier und vice versa‹« beschrieben worden sei. Die Einschätzung der Herausgeber dazu: »Wir verstehen das als verräumlichten Begleiter des afrofuturistischen Bewusstseins, das die Anziehungskraft anderer Zeiten – der Vergangenheit und der Zukunft – in der Gegenwart registriert.« (18)

Science-Fiction sei im Idealfall als »signifikante Verzerrung der Gegenwart« (46) zu verstehen, zitiert Eshun Samuel R. Delany in seinem Beitrag. Solche Zukunftsentwürfe und erweiterten Realitäten waren im Sommer in der Ausstellung ›African Mobilities. This Is Not A Refugee Camp Exhibition‹ [19] in der Münchner Pinakothek der Moderne zu sehen, etwa in der Dystopie-Immersion ›Akurakuda‹ als Video-Simulation und als Graphic Novel, auf Folien abgezogen und über einem Leuchtkasten ausgebreitet. Die Geschichte stammt von Wale Lawal, die Bilder von Olalekan Jeyifous. Die Stimmung erinnert an ›GTA Lagos‹, die Szenerie ist die fiktive, als Insel entworfene ›Mad Horse City‹. Auf okayafrica.com sind die von Lawal für diese Stadt entworfenen Episoden zusammengefasst: »Lawal describes Offline, the first of the three narratives, as a journey to escape the ubiquity of the internet that leads a woman to visit an illegal botanical garden where people pay to disconnect. In Òmìníra, the second of the three moments, two scavengers from a fishing community inspired by Makoko test the boundaries they've been given in their starkly unequal society. In Dreamscape [siehe 20; Anm. d. Verf.], a proxy bypass enables a young man to illegally download and experience the dreams of people based in other jurisdictions.« [21] Tatsächlich beschäftigten sich eine Reihe von Beiträgen mit Inseln und ›Island Crossings‹. So auch Aissata Baldes ›The Territory in Between‹ als Entwurf eines insularen »Fantasieort[s]« zweiundzwanzigeinhalb Kilometer vor den Kapverden gelegen, bestückt mit Krematorium, Badehaus, Fischfarm und Entsalzungsboje: »This project explores the interplay between physical and imagined spaces in ways that allow us to rethink our understandings of state, boundary and space. Migrants’ journeys are commonly portrayed as a linear progression from home to host nation. In reality, their movements are full of interruptions, discontinuities, periods of waiting, displacement, limbo and escape. Through drawings, I probe these fluid notions of territory, exploring the in-between spaces that contradict the two conventional underpinnings of territory: “site” and “state”. Whilst “state” often refers to an organised political community under one government, it also denotes one’s condition at any given time. My architecture considers the relationship between the formation, contestation and contradictions of territories, the production and maintenance of edges and borders. It is a pit stop, a way station for migrants on their journey from home to destination unknown. It questions laws of entry and exit; it manipulates the rules of a conventional harbour or airport, traditional sites of arrival and departure. It includes a crematorium, a bathhouse, a fish farm and a desalination buoy. Only the smoke from the crematorium is visible from the mainland of Cape Verde, itself the physical site of diaspora.« [22]

Golf-Futurismus
[In Avanessians Moalemi-Vortrag war – das lag nahe – auch ein Track aus Fatima Al Qadiris Asiatisch-Album zu hören. Die ›Ethno‹-Folie der (digitalen) Futurismen-Schattierungen ist austauschbar, die hanghellen Töne ›haunten‹-flottieren vor ›Desert Strike‹- oder ›Tropicalia‹-Hintergründen [23]. Nach dem Vortrag kamen Monira Al Qadiri und Karen Orton zu einem kurzen, recht müden debate auf die Bühne.] Den Begriff ›Golf-Futurismus‹ haben Fatima Al Qadiri und Sophia Al-Maria in Umlauf gebracht (vgl. Karen Orton, Fatima Al Qadiri und Sophia Al-Maria, Die Wüste des Unwirklichen, in: Avanessian / Moalemi, Ethnofuturismen, 149-158, hier 149). Wie die anderen beiden Spielarten ist auch diese Subkultur mit den Erfahrungen von Emigration und Diaspora, von Standortwechseln zwischen Kuwait, Saudi-Arabien, Katar, London, USA, mit Spannungen zwischen »moralischen Regeln der Vergangenheit« und »überstürzte[m] Sprint in die Zukunft« (153) verbunden. Dazu passt, dass die Golfregion in der Einleitung als »Transit-Lounge« (29) beschrieben und Transiträumen zugleich allgemein ein hohes Potenzial für die Mobilisierung regionaler Futurismen zuerkannt worden ist (mit dem Baltikum als einem weiteren Beispiel, vgl. 35). Fatima Al Qadiri spricht von einem »äußerst bizarre[n] Schwellenraum« (152). So weisen die Spielarten von Futurismen also eine Reihe von transregionalen Gemeinsamkeiten auf: Aufsplitterung in der Diaspora, Umformierung von Projektionen, Crossreferenzen in Versatzstücken, Spannungsverhältnis von radikal Archaischem und radikal Zukünftigem inkl. des empfundenen Fehlens eines moderierten Übergangs: »Es gab einen Quantensprung und eine zeitliche Lücke. Beide Dinge wurden zusammengestückelt, doch es fehlt ein Stück Geschichte. Golf-Futurismus hat mit diesem Gedanken Gestalt angenommen« (150), erinnert sich Al-Maria. Auch Fatima Al Qadiri kommt es so vor, »als ob wir ein Jahrhundert übersprungen hätten« (150).

Inmitten der Wüste und der »innere[n] Ödnis« (152 u. 157) der Privaträume wurden die Malls zu Orten der möglichen Überbrückung, zu Orten der Verheißung, der Begegnung, des klimatisierten Flanierens, kurz: zu »dem Ort für alles« (155). »[W]e are astonished to observe that the building is windowless«, hatte es 1933 noch in einer Reportage von der Weltausstellung in Chicago über das »extrem moderne« Sears Roebuck-Gebäude geheißen. [24] Heute verkehrt in Berlin ein xbeliebiger Bus wie der X11er in 24 Minuten zwischen den Einkaufszentren ›LIO‹ (S-Bhf Lichterfelde Ost) und den ›Gropius Passagen‹ (U-Bhf Johannisthaler Chaussee). Welche Unterschiede ergeben sich im täglichen Gebrauch zwischen solchen eher peripher gelegenen Malls und zentraleren wie der ›Mall of Berlin‹? Spielt sich nicht in use eine vernakuläre Eigenheit ein, die wiederum einen Boden bietet für ›Zukunft‹ und ›Ereignis‹? – Wie sieht es aus mit dem Verhältnis von ›Zukunft‹ und ›Ereignis‹? von ›Geschichtsseligkeit‹ und ›Zukunftsödnis‹? mit dem ›Outsourcen‹ der Zukunft?

Feldforschung als Ausblick
Spannend wäre es, die skizzierten Futurismen-Spielarten in Feldforschung umzusetzen und dabei (neben Hongkong, neben Malls in use) auf den Malediven anzufangen. Die Malediven als ein Archipel, in dem ›Golf-Futurismus‹ und ›Sinofuturismus‹ aufeinandertreffen, in dem künstliche Inseln (Hulhumalé) mit chinesischer Hilfe aufgeschüttet und als ›City of Hope‹ [25] für die Jugend vermarktet werden, in dem Saudi-Arabien das Faafu-Atoll mit einem Luxus-Entwicklungsprojekt zu überformen plant(e), die touristische Parallelwelt von ›Resortinseln‹ weitab der verdichteten urbanen Probleme der Hauptstadtinsel Malé liegt und das Reservoir an abgelegenen Inseln Platz für Reaktualisierungen peripherer Utopien im Stile des 2007 auf der Insel Himandhoo aufgetanen ›Mini-Kalifats‹ bieten möge [26]. Doch welche Zukunftsentwürfe ›assemblieren‹ Jugendliche in Malé und Hulhumalé? Gäbe es nicht einen maledivischen Futurismus zu entdecken (ein ›Malfuturismus‹)?

* Die Begriffskomponente ›ethnisch‹ / ›Ethno-‹ wird zwar als offen und fluide konfiguriert (vgl. 8f.), bleibt vielleicht aber trotz expliziter Abgrenzung von neurechten Konzepten nicht unproblematisch. In der Einleitung heißt es: »Gesucht ist eine Vision der Zukunft, die zwischen der Auflösung aller Unterschiede einerseits und der genau entgegengesetzten Ideologie einer Bewahrung ursprünglicher Identitäten andererseits liegt. Der ethnienlosen oder gar post-ethnischen Vision der Zukunft der Weltgeschichte, die mit der Zukunft des Kapitalismus verbunden ist (pax americana, Ende der Geschichte, Washington-Konsens), entgegengesetzt, gilt unser Interesse den blinden Flecken und Paradoxien überregionaler Kulturpolitik, indem wir sowohl das Erbe, als auch die Komplikationen des Post-Kolonialismus betonen, und die Kämpfe, die mit dem Aufschwung einer hybriden und mobilen subalternen Welt verbunden sind.« (9f.) Wenn abschließend von »eine[r] neue[n] Vision der Zukunft« die Rede ist, die »das politische Gewicht ethnischer Diversitäten« begreife (38), scheint das zumindest zweischneidig. Kittler etwa spricht polemisch von ›Ethnie‹ als »diesem postkolonialen Unbegriff« aus der »UNO-Satzung« und urteilt: »Niemand sollte mehr von Stämmen oder Völkern reden können.« [27] Sind »ethnische Formationen« (9) nicht eben immer auch Praktiken der Ausgrenzung? 20-09-2018

[1] https://www.deutschlandfunkkultur.de/philosoph-armen-avanessian-ueber-ethno-futurismen-wem.2162.de.html?dram:article_id=423436
[2] http://www.academia.edu/36773468/Avanessian_Moalemi_Ethnofuturismen_Einleitung.pdf bzw. https://drive.google.com/open?id=1bBsZa5DuSICE77T4V05PlFa2xJ-Jvu96 (engl. Version)
[3] https://runovers.wordpress.com/author/mahanmoalemi/
[4] https://youtu.be/4sn8VEq0H68
[5] https://www.goethe.de/ins/cn/de/kul/sup/bbl/21169923.html
[6] Ma Keyao, Die Überwindung des ›Eurozentrismus‹ (2006), in: Fritz Stern und Jürgen Osterhammel (Hg.), Moderne Historiker. Klassische Texte von Voltaire bis zur Gegenwart. München 2011, S. 501-506, hier S. 504 u. 505.
[7] https://beerontherug.bandcamp.com/album/-
[8] http://www.sehepunkte.de/2018/06/31081.html
[9] Louis-Ferdinand Céline, Norden. Reinbek 2. Auflage 2007, S. 262.
[10] J. L. S. Girling, Vietnam and the domino theory, in: Australian Outlook, Vol. 21 No. 1 (1967), S. 61-70, hier S. 69. Kursivierung im Original.
[11] Anne-M. Wallrath-Janssen, Der Verlag H. Goverts im Dritten Reich. München 2007, S. 391.
[12] Alfred Weber, Das Tragische und die Geschichte. Hamburg 1943, nacheinander S. 124, 97, 119, 119, 124.
[13] https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/politik/hans-ulrich-kempski-berichtet-aus-china-e697640 (SZ Plus)
[14] Luc Boltanski und Arnaud Esquerre, Bereicherung. Eine Kritik der Ware. Berlin 2018, S. 16.
[15] George Steiner, Ein langer Samstag. Ein Gespräch mit Laure Adler. Hamburg 2016, S. 136.
[16] http://www.chinadaily.com.cn/a/201803/27/WS5ab98b89a3105cdcf65146cc.html
[17] https://thediplomat.com/2018/03/chinas-quest-to-be-a-status-super-power/
[18] https://thediplomat.com/2018/03/can-chinas-great-show-of-unity-last/
[19] http://africanmobilities.org
[20] https://vimeo.com/272477448
[21] http://www.okayafrica.com/this-is-what-lagos-could-look-like-2115-wale-lawal-olalekan-jeyifous/
[22] http://africanmobilities.org/discourse/2018/05/the-past-is-a-foreign-country/
[23] https://www.youtube.com/watch?v=Tm7B1_Q6tfg
[24] Seeing Chicago’s Century of Progress Exposition, in: Sarasota Herald, 12.7.1933, S. 4.
[25] https://youtu.be/i0L2EGV65sQ
[26] http://llllllllllllllllllllllllllllllllllllllllll.li/pdf/uber_inseln_archipele_1-12-2017.pdf
[27] Friedrich A. Kittler, Pathos und Ethos. Eine aristotelische Betrachtung, in: ders., Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart, hg. v. Hans Ulrich Gumbrecht. Berlin 2. Auflage 2014, S. 391-395, hier S. 393.

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